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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2009 — 2010

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IV. Veranstaltungen im Jubiläumsjahr
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Langewiesche, Dieter: Förderalismuskonzeptionen in Deutschland: Wandel und Kontinuität seit dem 19. Jahrhundert
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https://doi.org/10.11588/diglit.66333#0405
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26. November 2009

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Der Nationalstaat von 1871 war auf allen Ebenen staatlichen und gesellschaft-
lichen Lebens föderativ gestaltet. Doch trotz aller Kontinuität hatte der Föderalismus
mit der Nationalstaatsgründung seine Zielrichtung gänzlich geändert. Das Leitbild
Föderatination richtete sich jetzt nicht mehr gegen den unitarischen Nationalstaat.
Indem dieses institutionell verankerte föderative Leitbild einzelstaatliche Traditionen
verteidigte, trug es wesentlich dazu bei, daß der neue Nationalstaat in der deutschen
Gesellschaft breit und schnell akzeptiert wurde. Man wuchs in den Nationalstaat hin-
ein, indem man sich als Föderalist bekannte.
Die föderative Grundlinie der deutschen Geschichte hat die Zentralisierungs-
dynamik des Nationalstaat von 1871 gebremst, doch zugleich hat dieser preußisch
dominierte Nationalstaat der deutschen Föderativtradition ein schweres Erbe aufge-
bürdet, das bei vielen zu einer Neubewertung des Föderalismus führte. Pointiert
gesagt: der Föderalismus wurde als Parlamentarisierungshemmnis entdeckt. Gerade
im deutschen Südwesten, einem Kerngebiet all derer, die in den Traditionen des
Alten Reiches dachten, also nicht zentralstaatlich, sondern zunächst staatenbündisch
und dann föderal, kam der Föderalismus ins Gerede. Er habe die volle Parlamentari-
sierung des deutschen Nationalstaates allzu lange verhindert. Dieser Urteilswandel
wurde an den württembergischen Demokraten und Liberalen erläutert.
Die württembergische Demokraten hatten die Gründung des Nationalstaates
unter Führung Preußens als eine katastrophale Niederlage für die Demokratie erlebt.
Diese Verurteilung des Nationalstaates von 1871 aus dem Geiste eines demokrati-
schen Föderalismus findet man im 20. Jahrhundert kaum mehr. Ausschlaggebend für
diesen Urteilswandel waren die Probleme bei der Parlamentarisierung des Deut-
schen Reiches. Sie veränderten das Urteil über die historischen Zusammenhänge
zwischen Parlamentarisierung und Demokratisierung auf der einen Seiten und
Föderalismus und Zentralismus auf der anderen. Das wurde an Theodor Heuss Hal-
tung dargelegt.
Preußen in Provinzen zerschlagen, um es für einen föderalen Nationalstaat
fähig zu machen, hieß das strikt föderative Programm der alten Demokraten. Den
politischen Föderalismus durch Zentralisierung abbauen, um den unitarischen
Nationalstaat handlungsfähig zu machen, auch und gerade gegen Preußen, wurde die
Leitlinie der jungen Demokraten, zu denen Heuss gehörte. Er hatte das gleiche Ziel
vor Augen wie im Jahrhundert zuvor seine Altvorderen: Wie sie verlangte er eine
starke, institutionell gesicherte parlamentarische Demokratie, wie sie sah er in dem
großen Preußen ein Haupthindernis auf dem Weg zu diesem Ziel. Doch während
die Demokraten des 19. Jahrhunderts auf eine strikte Föderalisierung des deutschen
Nationalstaates setzten, um ihn demokratisieren und parlamentarisieren zu können,
zeigte sich Heuss überzeugt, dieses Ziel nur durch Zentralisierung erreichen zu kön-
nen.
Die Geschichte des deutschen Föderalismus und seiner Einschätzung ist voller
Urteilsbrüche. Alles hängt davon ab, von welchem Sehepunkt man in die Geschich-
te blickt und Linien in die Gegenwart zieht: von dem reichisch-vielstaatlichen, dem
staatenbündischen und dem föderativen oder von dem zentralstaatlich-unitarischen.
Doch wie auch geurteilt wurde, niemand bestreitet die politische Gestaltungskraft
 
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