160 | ANTRITTSREDEN
Antrittsrede von Herrn ERNST-LUDWIG VON THADDEN
an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 24. Oktober 2009.
Geboren bin ich als Sohn zweier Menschen, die aus
sehr verschiedenen Lebenswelten kamen: meine Mutter
aus dem westdeutschen akademischen Bürgertum,
mein Vater aus dem ostelbischen Landadel. Doch gab es,
neben allem Persönlichen, auch einige Gemeinsamkei-
ten in beider Hintergrund. Aus meiner Sicht waren dies
vor allem die Flüchtlingserfahrung — die Familie mei-
ner Mutter hatte vor dem Krieg in der Nähe von Ber-
lin gelebt, mein Vater hatte auf dem Familiengut in
Hinterpommern noch den russischen Einmarsch erlebt
— und die Geschichtswissenschaft, in der beide vor ihrer
Heirat promoviert hatten. Beides hat uns vier Kinder
geprägt: ersteres in Form von Erzählungen und eines sparsamen Lebensstils, letzteres
durch vielfältige Gespräche und Besuche, die uns enorm bereichert haben. Im Grun-
de hatten wir zu Hause ständig lebendigen Geschichtsunterricht.
In der Schule fand ich vieles interessant, doch zeichneten sich in der Oberstufe
bald die Mathematik und die alten Sprachen als meine Lieblingsgebiete ab. Im Grie-
chischen faszinierte mich, neben der Sprachgewalt des Aischylos, vor allem der
Beginn des wissenschaftlichen Denkens, von den Vorsokratikern bis zu Sokrates, und
in der Mathematik die Klarheit dieses Fragens und Denkens selbst. Das TI JIOt'eGTIV
des Sokrates, dies „was ist das eigentlich?“, hat mich seither immer begleitet.
Als ich dann in Heidelberg zu studieren begann, entschied ich mich schließ-
lich doch nicht für die Philologie, sondern für die Mathematik. Ich glaube, dass die
Mathematik, auch wegen meines Elternhauses, einfach die größere Herausforderung
darstellte. Je länger ich studierte, desto mehr machte sich allerdings mein Interesse an
den Sozialwissenschaften bemerkbar. Die ideale Verbindung zwischen diesen meinen
beiden Interessen waren offensichtlich die Wirtschaftswissenschaften, die ich ver-
stärkt zu studieren begann. Doch erschöpfte sich deren Lehre in Heidelberg in rela-
tiv oberflächlicher Dogmatik aus deutscher Nachkriegstradition und der Wiederga-
be einiger klassischer Gleichgewichtsmodelle, die mir völlig unplausibel blieben. Erst
ein Vortrag von Werner Hildenbrand aus Bonn über das Aggregationsproblem öffne-
te mir die Augen. In diesem Vortrag setzte sich Hildenbrand sehr kritisch mit der
empirischen Inhaltsleere der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie und ihrer
Unzulänglichkeit bei der Herleitung gesamtwirtschaftlicher Struktureigenschaften
auseinander. Er tat dies nicht mit einer auch heute noch weitverbreiteten billigen,
abqualifizierenden Haltung der gesamten Theorie gegenüber, sondern konstruktiv,
innovativ und von echtem Verständnis getragen. Das war kritische Theorie, wie ich
sie mir wünschte!
Ich schloss dann ziemlich schnell mein Mathematikstudium ab und wechselte
nach Bonn, um im dortigen „European Doctoral Program for Economics“ zu pro-
Antrittsrede von Herrn ERNST-LUDWIG VON THADDEN
an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 24. Oktober 2009.
Geboren bin ich als Sohn zweier Menschen, die aus
sehr verschiedenen Lebenswelten kamen: meine Mutter
aus dem westdeutschen akademischen Bürgertum,
mein Vater aus dem ostelbischen Landadel. Doch gab es,
neben allem Persönlichen, auch einige Gemeinsamkei-
ten in beider Hintergrund. Aus meiner Sicht waren dies
vor allem die Flüchtlingserfahrung — die Familie mei-
ner Mutter hatte vor dem Krieg in der Nähe von Ber-
lin gelebt, mein Vater hatte auf dem Familiengut in
Hinterpommern noch den russischen Einmarsch erlebt
— und die Geschichtswissenschaft, in der beide vor ihrer
Heirat promoviert hatten. Beides hat uns vier Kinder
geprägt: ersteres in Form von Erzählungen und eines sparsamen Lebensstils, letzteres
durch vielfältige Gespräche und Besuche, die uns enorm bereichert haben. Im Grun-
de hatten wir zu Hause ständig lebendigen Geschichtsunterricht.
In der Schule fand ich vieles interessant, doch zeichneten sich in der Oberstufe
bald die Mathematik und die alten Sprachen als meine Lieblingsgebiete ab. Im Grie-
chischen faszinierte mich, neben der Sprachgewalt des Aischylos, vor allem der
Beginn des wissenschaftlichen Denkens, von den Vorsokratikern bis zu Sokrates, und
in der Mathematik die Klarheit dieses Fragens und Denkens selbst. Das TI JIOt'eGTIV
des Sokrates, dies „was ist das eigentlich?“, hat mich seither immer begleitet.
Als ich dann in Heidelberg zu studieren begann, entschied ich mich schließ-
lich doch nicht für die Philologie, sondern für die Mathematik. Ich glaube, dass die
Mathematik, auch wegen meines Elternhauses, einfach die größere Herausforderung
darstellte. Je länger ich studierte, desto mehr machte sich allerdings mein Interesse an
den Sozialwissenschaften bemerkbar. Die ideale Verbindung zwischen diesen meinen
beiden Interessen waren offensichtlich die Wirtschaftswissenschaften, die ich ver-
stärkt zu studieren begann. Doch erschöpfte sich deren Lehre in Heidelberg in rela-
tiv oberflächlicher Dogmatik aus deutscher Nachkriegstradition und der Wiederga-
be einiger klassischer Gleichgewichtsmodelle, die mir völlig unplausibel blieben. Erst
ein Vortrag von Werner Hildenbrand aus Bonn über das Aggregationsproblem öffne-
te mir die Augen. In diesem Vortrag setzte sich Hildenbrand sehr kritisch mit der
empirischen Inhaltsleere der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie und ihrer
Unzulänglichkeit bei der Herleitung gesamtwirtschaftlicher Struktureigenschaften
auseinander. Er tat dies nicht mit einer auch heute noch weitverbreiteten billigen,
abqualifizierenden Haltung der gesamten Theorie gegenüber, sondern konstruktiv,
innovativ und von echtem Verständnis getragen. Das war kritische Theorie, wie ich
sie mir wünschte!
Ich schloss dann ziemlich schnell mein Mathematikstudium ab und wechselte
nach Bonn, um im dortigen „European Doctoral Program for Economics“ zu pro-