Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2009 — 2010

DOI Kapitel:
I. Das Geschäftsjahr 2009
DOI Kapitel:
Antrittsreden
DOI Artikel:
Holzem, Andreas: Antrittsrede vom 12. Dezember 2009
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.66333#0149
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Andreas Holzem

165

Das ist der Grund, warum ich keinen Magister in Geschichte erworben, son-
dern neben der Theologie Philosophie und insbesondere Publizistik studiert habe.
Heute bedaure ich das auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber zeigt mir die
fruchtbare kollegiale Gesprächsbereitschaft vieler Tübinger Kolleginnen und Kolle-
gen aus der allgemeinen Geschichtswissenschaft, dass ich vielleicht nicht den aller-
wichtigsten Teil ihres Fachs versäumt habe.
Wenn ich für die enge Verschränkung von Kirchen- und allgemeiner
Geschichte einem in besonderer Weise dankbar bin, dann meinem akademischen
Lehrer und Mentor Arnold Angenendt. Der Paradigmenwechsel, den ich in meinem
dritten Semester erfahren habe, als er in Münster Erwin Iserloh ablöste, hatte auch
deshalb etwas für mich so Zwingendes, weil nicht nur eine ganz andere materiale
Geschichte des Christentums zum Vorschein kam, sondern auch ein ganz anderes
Gewicht des geschichtlichen Arguments für die Theologie als Ganze. Ich habe spä-
ter das ältere Paradigma im wissenssoziologischen Kontext seiner Entstehungs-
geschichte beschrieben und historisiert; manche seiner Anhänger haben mir das frei-
lich übel genommen.
Das Münsteraner Arbeitsklima war nicht nur durch seine Teamstrukturen
ungeheuer anregend — ich möchte Wim Damberg, Hubertus Lutterbach und Anto-
nia Leugers besonders herausheben, die alle auf ihre je eigene Art faszinierende Reli-
gionshistoriker/innen geworden sind. Prägend war auch die Zusammenarbeit mit
der Bielefelder Schule im Zeichen der Historischen Sozialwissenschaft, mit der
Münsteraner Mediävistik und Zeitgeschichte, mit der Mission Historique de France
en Allemagne und den französischen Religionshistorikern, vermittelt durch das Göt-
tinger Max-Planck-Institut für Geschichte in den Zeiten seiner Leitung durch Otto
Gerhard Oexle und Hartmut Lehmann. Es gab zu dieser Zeit keine anderen Orte in
Deutschland, an denen man - von der Theologie her — so konsequent interdisziplinär
danach gefragt hätte, was die Schule der Annales, Pierre Bourdieu, Michel Foucault
oder Norbert Elias, aber auch eine empirische Sozialgeschichte für die Geschichte
des Christentums bereithielten. Studien- und Arbeitsphasen in München und Rom
haben die große Freiheit dieser Suchbewegungen befördert - am ersten Ort traten
Nipperdey und Siemann neben Wehler und Mooser, und Hans Belting hat die
Bedeutung einer Kulturgeschichte des Bildes jenseits der Kunst ungeheuer ein-
drucksvoll vermittelt. Dass in Rom eher S. Clemente, S. Agnese oder S. Maria in
Trastevere besondere Erinnerungsorte wurden, mag man signifikant finden. Der
gelassen-liberale Geist eines Erwin Gatz hat dieses halbe Jahr im Campo Santo
Teutonico eindrücklich abgehoben von alternativen Erfahrungen.
Meine bisherigen großen wissenschaftlichen Projekte sind Fortentwicklungen
solcher interdisziplinären Strukturen und Denkformen.
Religiöse Dissidenz und die Politisierung der Religion im Umfeld der Revo-
lution von 1848/49 waren Gegenstand meiner Dissertation. Der religiöse Protest
erwies sich auch als Korrelat des sozialen Umbaus der Stadt. Die inter- und intra-
konfessionellen Konflikte um Religionsstile, die im Angesicht von Revolutions-
erfahrung und Pauperismuskrise noch tragfähig sein sollten, heizten extreme Lei-
denschaften an. Dass der religionsbürokratische Beamtenstaat des späten Vormärz die
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften