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ANTRITTSREDEN
etablierten Konfessionen ebenso protegierte wie bevormundete, ließ die Religions-
freiheit zum zentralen Thema der Revolutionsgeschichte und ihrer Verfassungsde-
batten werden.
Ein DFG-Projekt „Religion und Lebensformen“ gab den Rahmen für die
Habilitation, nun in der Frühen Neuzeit: eine Mentalitäts- und Sozialgeschichte dör-
flicher Religion in einem Zeitraum von etwa 250 Jahren von der späten Reforma-
tions- bis in die Aufklärungszeit. Etwa 19.000 Protokolle sog. Sendgerichte und
zusätzliche Akten zwischen 1550 und 1800 machten es möglich, nicht nur lange
Dauer, sondern auch langsamen Wandel, ohne sprunghafte Dynamisierungsschübe,
aber nicht ohne erhebliche Signifikanz zu beschreiben und in seiner Wirkungsdyna-
mik zu analysieren: die Mentalität einer transzendenzgeprägten Rationalität, den
Umbau von religiöser Soziabilität und geistlicher Lebensform, Elementarbildung
und Schriftlichkeit, der Widerstreit von religiöser Ethik und sozialer Logik in Fami-
liarität, Sexualität und Gewalt, das Verhältnis von Überwachen, Strafen und der Ent-
stehung einer das Selbst thematisierenden Identität, Magie, und die Bedingungen
dieses Wandels in der ländlichen Ökonomie und im Vordringen von Schrift und
Buch. Diese Forschungen haben es nicht nur notwendig gemacht, das Paradigma der
Konfessionalisierung tiefgreifend zu modifizieren. Auch eine Religionsgeschichte
der Aufklärung, wenn sie denn eine Kulturgeschichte ländlicher Lebensformen be-
inhalten soll, musste danach unter veränderten, hoch ambivalenten Vorzeichen
erscheinen.
Seit ich nach meinem Heisenberg-Stipendium 1999 nachTübingen kam, stand
im Rahmen des SFB 437 „Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ die religiöse
Kriegserfahrung im Mittelpunkt meiner Forschung. Meine Eigenprojekte drehten
und drehen sich — da ist nach intensiver Quellenrecherche noch viel zu schreiben —
um Kriegserfahrung in der frühneuzeitlichen Stadt: Wie, zwischen Konfessionskampf
und Staatsbildung, interpretieren die Städter einen Krieg, an dem sie durchgängig
nicht als Kombattanten, sondern als zunehmend ausgezehrte Ressourcenträger teil-
nehmen müssen? Wie bewältigt man es religiös, wenn an der von Soldaten einge-
schleppten Pest innerhalb weniger Wochen die Hälfte der Bevölkerung stirbt? Was
geschieht, wenn der Konfessionskrieg eine Stadtbevölkerung an den Bekenntnis-
grenzen spaltet? Gibt es eine Predigt im Krieg, die nicht Kriegspredigt ist? Wie kann
Zusammenleben organisiert werden, wenn die Wahrheitsansprüche durch einen
pragmatischen Friedensschluss nach wie vor unabgegolten sind? Wiederum ergaben
sich aus diesem Projekt, aber auch aus denen meiner Arbeitsgruppe zum I. und II.
Weltkrieg und aus denen des gesamten Projektbereichs „Kriegserfahrung und Reli-
gion“ übergreifende grundsätzliche Fragestellungen. Das hat zu dem Versuch
geführt, eine umfassende Darstellung möglichst aller Themenbereiche von den bib-
lischen und philosophischen Grundlagen über eine Kriegsgeschichte der Antike bis
zum Irakkrieg des George W. Bush zusammenzuführen — zunächst einmal für den
christlichen Westen. Daraus wollte ich — vorangestellt — eine umfassende Theorie des
Verhältnisses von Krieg und Christentum destillieren. Das ist gerade erschienen und
ich bin dankbar für die präzise Mitarbeit der Autorinnen und Autoren und für das
Potential, das ich daraus für die Theoriebildung schöpfen konnte.
ANTRITTSREDEN
etablierten Konfessionen ebenso protegierte wie bevormundete, ließ die Religions-
freiheit zum zentralen Thema der Revolutionsgeschichte und ihrer Verfassungsde-
batten werden.
Ein DFG-Projekt „Religion und Lebensformen“ gab den Rahmen für die
Habilitation, nun in der Frühen Neuzeit: eine Mentalitäts- und Sozialgeschichte dör-
flicher Religion in einem Zeitraum von etwa 250 Jahren von der späten Reforma-
tions- bis in die Aufklärungszeit. Etwa 19.000 Protokolle sog. Sendgerichte und
zusätzliche Akten zwischen 1550 und 1800 machten es möglich, nicht nur lange
Dauer, sondern auch langsamen Wandel, ohne sprunghafte Dynamisierungsschübe,
aber nicht ohne erhebliche Signifikanz zu beschreiben und in seiner Wirkungsdyna-
mik zu analysieren: die Mentalität einer transzendenzgeprägten Rationalität, den
Umbau von religiöser Soziabilität und geistlicher Lebensform, Elementarbildung
und Schriftlichkeit, der Widerstreit von religiöser Ethik und sozialer Logik in Fami-
liarität, Sexualität und Gewalt, das Verhältnis von Überwachen, Strafen und der Ent-
stehung einer das Selbst thematisierenden Identität, Magie, und die Bedingungen
dieses Wandels in der ländlichen Ökonomie und im Vordringen von Schrift und
Buch. Diese Forschungen haben es nicht nur notwendig gemacht, das Paradigma der
Konfessionalisierung tiefgreifend zu modifizieren. Auch eine Religionsgeschichte
der Aufklärung, wenn sie denn eine Kulturgeschichte ländlicher Lebensformen be-
inhalten soll, musste danach unter veränderten, hoch ambivalenten Vorzeichen
erscheinen.
Seit ich nach meinem Heisenberg-Stipendium 1999 nachTübingen kam, stand
im Rahmen des SFB 437 „Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ die religiöse
Kriegserfahrung im Mittelpunkt meiner Forschung. Meine Eigenprojekte drehten
und drehen sich — da ist nach intensiver Quellenrecherche noch viel zu schreiben —
um Kriegserfahrung in der frühneuzeitlichen Stadt: Wie, zwischen Konfessionskampf
und Staatsbildung, interpretieren die Städter einen Krieg, an dem sie durchgängig
nicht als Kombattanten, sondern als zunehmend ausgezehrte Ressourcenträger teil-
nehmen müssen? Wie bewältigt man es religiös, wenn an der von Soldaten einge-
schleppten Pest innerhalb weniger Wochen die Hälfte der Bevölkerung stirbt? Was
geschieht, wenn der Konfessionskrieg eine Stadtbevölkerung an den Bekenntnis-
grenzen spaltet? Gibt es eine Predigt im Krieg, die nicht Kriegspredigt ist? Wie kann
Zusammenleben organisiert werden, wenn die Wahrheitsansprüche durch einen
pragmatischen Friedensschluss nach wie vor unabgegolten sind? Wiederum ergaben
sich aus diesem Projekt, aber auch aus denen meiner Arbeitsgruppe zum I. und II.
Weltkrieg und aus denen des gesamten Projektbereichs „Kriegserfahrung und Reli-
gion“ übergreifende grundsätzliche Fragestellungen. Das hat zu dem Versuch
geführt, eine umfassende Darstellung möglichst aller Themenbereiche von den bib-
lischen und philosophischen Grundlagen über eine Kriegsgeschichte der Antike bis
zum Irakkrieg des George W. Bush zusammenzuführen — zunächst einmal für den
christlichen Westen. Daraus wollte ich — vorangestellt — eine umfassende Theorie des
Verhältnisses von Krieg und Christentum destillieren. Das ist gerade erschienen und
ich bin dankbar für die präzise Mitarbeit der Autorinnen und Autoren und für das
Potential, das ich daraus für die Theoriebildung schöpfen konnte.