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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2010 — 2011

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I. Das Geschäftsjahr 2010
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Sommer, Andreas Urs: Nietzsche kommentieren. Perspektiven und Probleme
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https://doi.org/10.11588/diglit.55658#0147
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l.Juli 2010

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l.Juli 2010
ANDREAS URS SOMMMER
Nietzsche kommentieren. Perspektiven und Probleme
„Sie fragen mich, was Alles Idiosynkrasie bei den Philosophen ist?...
Zum Beispiel ihr Mangel an historischem Sinn, ihr Hass gegen die Vorstellung selbst des Werdens,
ihr Ägypticismus. Sie glauben einer Sache eine Ehre anzuthun, wenn sie
dieselbe enthistorisiren, sub specie aeterni, — wenn sie aus ihr eine Mumie machen.“
Historisierung und Kommentierung
Die Figur des Kommentators ist verdächtig. Er gilt als jemand, der zu eigenständiger
Denkleistung unfähig ist und sich deshalb parasitär verhält, parasitär nämlich zu dem
von ihm Kommentierten. Ohne das zu Kommentierende wäre der Kommentator
buchstäblich seiner Existenzgrundlage beraubt. Der Kommentator erscheint als Pro-
totyp des Einbalsamierers, des Mumifikators, der aber seinem Opfer, dem Kommen-
tierten, noch einen Funken Leben lässt, um sich an ihm selbst lebendig, restlebendig
zu halten.
Jedoch spricht Friedrich Nietzsche im Eingangszitat — es stammt aus einer sei-
ner letzten Schriften, der Götzen-Dämmerung von 1888 — nicht von den Kommen-
tatoren als prototypischen Mumifikatoren, auch nicht von den Historisierern und
Relativierern. Nietzsche stimmt keineswegs jene Klage an, die sich derzeit unter aka-
demischen Philosophen einer gewissen Beliebtheit erfreut, dass sich nämlich die Phi-
losophie verhängnisvoll in die Historie verstrickt, damit ihre eigentlichen, systema-
tischen Interessen preisgegeben und ihre Seele in reinem Antiquarismus ausgehaucht
habe. Wenn man einen aktuellen Beleg für den ,,Mangel an historischem Sinn“ bei
den Philosophen suchen wollte, könnte man ihn gerade in der herabwürdigenden
Behandlung finden, die der Philosophiehistorie im universitären Gegenwartsmilieu
widerfährt.
Nietzsche tritt freilich auch nicht als Advokat einer als Selbstzweck betriebe-
nen Philosophiehistorie auf, sondern macht auf den Selbstbetrug einer Philosophie
aufmerksam, die ihr eigenes Gewordensein, ihre eigene Bedingtheit ausblendet,
indem sie ihren Begriffen Unbedingtheit, Absolutheit zuschreibt. Nicht der Kom-
mentator, insofern er seine Aufmerksamkeit beispielsweise Gedanken oder Texten
der Vergangenheit schenkt, ist der exemplarische Mumifikator, sondern derjenige, der
das Werden und damit das Vergehen überhaupt leugnet.
Das Kommentar- Unternehmen
Nietzsches Polemik gegen die Enthistorisierung lässt sich im Umkehrschluss als Plä-
doyer für ein historisch sensibles Denken verstehen, das sich aller vorschnellen Ver-
allgemeinerung des Gedachten verweigert. Nietzsches Polemik lässt sich verstehen
als Plädoyer für ein Denken, das überbordende Erkenntnisansprüche immer wieder
an ihre historisch kontingenten Entstehungsumstände zurückbindet und damit quasi
sich selbst immer wieder ins Wort fällt. Stellen wie die eingangs zitierte inspirieren
 
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