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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2011 — 2012

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I. Das Geschäftsjahr 2011
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 15. Juli 2011
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Mosbrugger, Volker: Mensch und Kultur – auf dem Weg zu einem evolutionären Selbstverständnis
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https://doi.org/10.11588/diglit.55657#0074
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15. Juli 2011

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am Ende unserer biologischen Evolution? Oder schaffen die vielfältigen neuen
Herausforderungen unserer neuen kulturellen Umwelten vielmehr ein Umfeld, das
manchen biologischen Anpassungen sogar erst zum Durchbruch verhilft? Die kultu-
relle Evolution erlaubt eine rasante Anpassung an sich verändernde Umweltbedin-
gungen: Eröffnet sich dadurch für den Menschen ein unendliches Universum von
Möglichkeiten, oder gibt es auch Grenzen für die kulturelle Evolution?
Diese gibt es in der Tat. Wenn akzeptiert wird, dass der Mensch das Produkt
einer biologischen Evolution ist, dann muss dies auch für seine Erkenntnisfähigkeit
gelten: Sie ist entstanden als „Anpassung“ an die natürliche Umwelt des Menschen,
in der seine Evolution stattfand. Damit sind dem Menschen klare Erkenntnisgrenzen
gesetzt - so wie jedem anderen Organismus. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass
Ameisen — auch wenn sie als hochkomplexe Organismen besondere Bewunderung
verdienen — bestimmten Erkenntnisgrenzen unterworfen sind, die durch ihre Evolu-
tion bestimmt werden. Ameisen, die ihren Ameisenhaufen aus Fichtennadeln auf-
bauen, können Fichtennadeln erkennen, ihre Vorstellung und Erkenntnis der Fich-
tennadel „passt“ in ihre Ameisenwelt, unterscheidet sich aber naturgemäß sehr stark
von unserer menschlichen Wahrnehmung der Fichtennadel. Es gibt eine Ameisen-
Sicht der Welt und eine Menschen-Sicht der Welt, und beide haben ihre durch die
evolutionäre Vorgeschichte gesetzten Grenzen. Die Ameise kann sich in ihrer Welt
wunderbar orientieren, sie funktioniert in ihrem System sehr gut, auch wenn sie von
der Komplexität der Welt, wie wir sie wahrnehmen, nichts weiß. Der Mensch ist kein
grundlegend anderes Lebewesen und wie die Ameisen durch Evolution entstanden.
Wir leben und „funktionieren“ in unserem menschlichen „Ameisenhaufen“, haben
unsere evolutionär entstandene Erkenntnisfähigkeit mit ihren ganz spezifischen
Erkenntnisgrenzen.
Diese menschlichen Erkenntnisgrenzen lassen sich schön anhand einer der
klassischen Lügengeschichten des Baron Münchhausen erläutern. So wenig wie sich
der im Morast fest steckende Baron Münchhausen am eigenen Schopfe aus dem
Sumpf ziehen kann, so wenig kann der Mensch sich selbst und das gesamte Univer-
sum umfassend erklären und verstehen, denn er ist selbst Bestandteil und Produkt der
Evolutionsgeschichte. Erkenntnistheorie muss daher heute wesentlich auch „Evolu-
tionäre Erkenntnistheorie“ sein. Jenseits dieser durch die Evolution gesetzten
Erkenntnisgrenzen bleibt ein unendlicher unerkannter Rest — man mag ihn als
Agnostiker einfach zur Kenntnis nehmen und akzeptieren, oder aber mit einer
Theologie füllen: der wissenschaftlichen Forschung ist er nicht zugänglich.
Aber auch unsere Ästhetik und Ethik besitzen, so muss postuliert werden,
einen evolutionären Hintergrund. Dass wir Produkte der Natur meist als schön
empfinden — erinnert sei nur an die „Kunstformen der Natur“ von Ernst Haeckel —
mag wesentlich damit Zusammenhängen, dass wir selbst ein Produkt der Natur sind
und in ihr leben (oder zumindest gelebt haben). Ähnliches mag für die Ethik und
Religionen gelten. Wenn heute in einem großen Projekt „Welthethos“ von Hans
Küng die Gemeinsamkeiten der Weltregionen und -kulturen erforscht werden, dann
entspricht dies auch der Suche nach den evolutionären Wurzeln von Ethik und Reli-
gion. Die Bedeutung dieser „EEE-Trilogie“ (evolutionäre Erkenntnistheorie, evolu-
 
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