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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2011 — 2012

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I. Das Geschäftsjahr 2011
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 15. Juli 2011
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Mosbrugger, Volker: Mensch und Kultur – auf dem Weg zu einem evolutionären Selbstverständnis
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https://doi.org/10.11588/diglit.55657#0075
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SITZUNGEN

tionäre Ästhetik und evolutionäre Ethik) für unser Selbstverständnis ist bisher erst in
Ansätzen untersucht.
Die Evolution setzt also dem Menschen bestimmte Randbedingungen, mit
denen er kulturell sehr unterschiedlich umgehen kann. Diese Randbedingungen und
Limitationen gelten wohl auch für ein Feld, das man als „anthropogene Evolution“
bezeichnen könnte, also eine vom Menschen gemachte Evolution, die heute unter
dem Stichwort „Synthetische Biologie“ intensiv und kontrovers diskutiert wird.
Von diesen durch die Evolution gesetzten Grenzen losgelöst sind natürlich die
ethischen Grenzen, die sich der Mensch selbst setzt. Diese Frage nach den ethisch
vertretbaren Toleranzgrenzen menschlicher Eingriffe in die Genetik und Biologie
des Menschen gehört naturgemäß zu den schwierigsten (Mohr 2010). Man darf aber
erwarten, dass sich auch hier im Laufe der Zeit signifikante Verschiebungen ergeben
werden. Noch vor wenigen Jahrhunderten war die Öffnung von Leichen auch für
wissenschaftliche Zwecke in verschiedenen Ländern verboten oder zumindest mit
einem Tabu belegt; heute haben wir uns an Autopsien, an Operationen, Austausch
von Herz und Lunge gewöhnt und empfinden dies alles nicht als ethisch problema-
tisch. Ähnliches wird im Bereich der anthropogenen Evolution geschehen; die ethi-
schen Vorstellungen werden sich mit dem wissenschaftlichen Fortschritt verändern.
Andererseits werden aber auch hier die Grenzen der Evolution und in diesem Kon-
text die Grenzen der evolutionären Ethik greifen, und zwar insbesondere dann, wenn
die Art-Identität und der Art-Erhalt in Frage stehen. Vergleichbares galt und gilt für
unsere Tötungshemmung: Wir haben im Rahmen der kulturellen Evolution die
Möglichkeiten, uns wechselseitig umzubringen, erheblich potenziert, gleichwohl gilt
der ethische Imperativ „du sollst nicht töten“ unverändert und hat sich das Ausmaß
der Gewalt insgesamt im Laufe der kulturellen Evolution vermutlich verringert
(Pinker 2011).
Anthropogene Evolution wird es also sicher geben, sie wird aber auch ihre
durch die Evolution vorgezeichneten Grenzen haben, die einerseits mit der Biolo-
gie, andererseits mit der (evolutionären) Ethik und Ästhetik zu tun haben. Wie nahe
wir diesen Grenzen je kommen werden, vermag man heute nicht zu sagen. Was wir
aber brauchen, ist ein realistisches evolutionäres Selbstverständnis und eine evolu-
tionäre Bescheidenheit des Menschen. Was ist der Mensch tatsächlich? Die Einen
sehen in ihm ein fast gottähnliches Wesen, das die Welt mit seiner Technik im Griff
hat und alles gestalten kann. Für Andere ist der Mensch der Störfaktor in der Har-
monie der Natur, der Beelzebub, der die Erde zu Grunde richtet und zu Recht aus
dem Paradies vertrieben wurde.
Die evolutionäre Betrachtung zeigt, dass beide Positionen falsch sind. Der
Mensch ist weder Gott noch Teufel, sondern eine evolutionär entstandene, einmalige
Art - dies wiederum stellt keine Besonderheit dar, denn jede Art ist per definitio-
nem einmalig! Auch dass sich der Mensch die Erde Untertan macht, ist keinesfalls
Mensch-spezifisch. Jede Art expandiert ohne Rücksicht auf Verluste bis an ihre
Grenzen, die durch die Umwelt bzw. die Selektion geben sind: genau darin liegt der
Motor der Evolution. Die „gnadenlose“ Ausbeutung des Planeten Erde durch den
Menschen (wie durch andere Organismen) ist also ein Resultat der Evolution und
 
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