22. Januar 2011
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HERR STEFAN WEINFURTER HÄLT EINEN VORTRAG:
„Eindeutigkeit — Motor der Innovation im Mittelalter“.
Christus habe nicht gesagt, „ich bin die Gewohnheit“, sondern „ich bin die Wahr-
heit“. Mit diesem Satz brachte Papst Gregor VII. (1073-1085) sein Programm der
Neuausrichtung der westchristlichen Welt auf den Punkt. „Wahrheit“ freilich musste
eindeutig sein, wie Anselm von Canterbury etwa zur selben Zeit in seinem Dialogus
über die Wahrheit (De veritate) ausführte. Die Folgen dieses Anspruchs waren eben-
so vielfältig wie umwälzend für die gesamte Kultur im westlichen Europa. Mit der
Forderung nach Eindeutigkeit der Normen, der Regeln und der Ordnungsvorgaben
begann sich der Entscheidungsprimat des universalen Papsttums zu etablieren.
Parallel dazu kam ein rechtswissenschaftlicher Klärungsprozess im Hinblick auf die
Vielfalt der kirchlichen Rechtsüberlieferung in Gang. Das kanonische Recht wurde
in sich „stimmig“ und das heißt wiederum: möglichst „eindeutig“ gemacht und im
Decretum Gratiani 1140 erstmals mit dieser Zielsetzung zusammengefasst. Um den
Klärungsprozess abzusichern, wurde die dialektische Methode in virtuoserWeise zur
Anwendung gebracht. Damit war die Basis für die Herausbildung einer wissen-
schaftlichen Methode und die Entstehung der Universitäten im 12. Jahrhundert
geschaffen. Die Forderung und das Streben nach Eindeutigkeit hinsichtlich der
moralisch-religiösen Werteordnung, der liturgischen Normen und der Rechtsnor-
men für die kirchliche und gesellschaftliche Ordnung brachte einen überaus kräfti-
gen Impuls für die Veränderungen im hohen Mittelalter mit sich.
Einen ähnlichen „Eindeutigkeitsschub“ gab es in Europa schon einmal, und
zwar etwa 300 Jahre früher, in der Zeit Karls des Großen (768-814). In seiner Zeit
wurde im Karolingerreich ein wahrlich ambitioniertes Programm durchgesetzt: die
Generierung von Eindeutigkeit in Sprache, Text und Schrift. Dahinter standen Fra-
gen wie: Was bedeutet ein Wort? Was bedeutet ein Schriftzeichen? Was wird durch
ein bestimmtes rituelles Verhalten bewirkt? Auch die Frage: Darf Mehrdeutigkeit
überhaupt Grundlage gesellschaftlicher Ordnung sein? Planmäßig wurden in Folge
dessen in den Bildungszentren des karolingischen Reichs (wozu auch das Kloster
Lorsch an der Bergstraße zählte) „korrekte“ Texte (correctio') hergestellt. Die begriff-
liche Korrektheit übte man an klassischen Texten ein, die zu diesem Zweck abge-
schrieben wurden und uns daher heute erhalten sind. Dann emendierte man ver-
derbte Texte (emendatio'), um auf diese Weise höchstmögliche Verbindlichkeit zu
erreichen. Schließlich entwickelte man eine eindeutige Schrift, die karolingische
Minuskel, bei der es so gut wie keine Buchstaben- und Wortligaturen mehr gab und
jeder Buchstabe durch Ober- oder Unterlänge oder Mittelposition „eindeutig“ war:
So entstand die „lateinische Schrift“, die wir heute noch verwenden. Aber auch die
Gesetze, die Karl der Große erließ (meist in Form von „Kapitularien“) und die gera-
dezu in eine sakrale Aura gestellt wurden (wie die Lex Salica), strebten Einheitlich-
keit und Eindeutigkeit an - Grundlagen für die Stabilität der Reichsordnung und für
die Autorität des Herrschers.
Man könnte auch noch die Zeit des Humanismus hinzufügen. Damit wäre
eine weitere Epoche angesprochen, die ein hohes Maß an Eindeutigkeit in die
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HERR STEFAN WEINFURTER HÄLT EINEN VORTRAG:
„Eindeutigkeit — Motor der Innovation im Mittelalter“.
Christus habe nicht gesagt, „ich bin die Gewohnheit“, sondern „ich bin die Wahr-
heit“. Mit diesem Satz brachte Papst Gregor VII. (1073-1085) sein Programm der
Neuausrichtung der westchristlichen Welt auf den Punkt. „Wahrheit“ freilich musste
eindeutig sein, wie Anselm von Canterbury etwa zur selben Zeit in seinem Dialogus
über die Wahrheit (De veritate) ausführte. Die Folgen dieses Anspruchs waren eben-
so vielfältig wie umwälzend für die gesamte Kultur im westlichen Europa. Mit der
Forderung nach Eindeutigkeit der Normen, der Regeln und der Ordnungsvorgaben
begann sich der Entscheidungsprimat des universalen Papsttums zu etablieren.
Parallel dazu kam ein rechtswissenschaftlicher Klärungsprozess im Hinblick auf die
Vielfalt der kirchlichen Rechtsüberlieferung in Gang. Das kanonische Recht wurde
in sich „stimmig“ und das heißt wiederum: möglichst „eindeutig“ gemacht und im
Decretum Gratiani 1140 erstmals mit dieser Zielsetzung zusammengefasst. Um den
Klärungsprozess abzusichern, wurde die dialektische Methode in virtuoserWeise zur
Anwendung gebracht. Damit war die Basis für die Herausbildung einer wissen-
schaftlichen Methode und die Entstehung der Universitäten im 12. Jahrhundert
geschaffen. Die Forderung und das Streben nach Eindeutigkeit hinsichtlich der
moralisch-religiösen Werteordnung, der liturgischen Normen und der Rechtsnor-
men für die kirchliche und gesellschaftliche Ordnung brachte einen überaus kräfti-
gen Impuls für die Veränderungen im hohen Mittelalter mit sich.
Einen ähnlichen „Eindeutigkeitsschub“ gab es in Europa schon einmal, und
zwar etwa 300 Jahre früher, in der Zeit Karls des Großen (768-814). In seiner Zeit
wurde im Karolingerreich ein wahrlich ambitioniertes Programm durchgesetzt: die
Generierung von Eindeutigkeit in Sprache, Text und Schrift. Dahinter standen Fra-
gen wie: Was bedeutet ein Wort? Was bedeutet ein Schriftzeichen? Was wird durch
ein bestimmtes rituelles Verhalten bewirkt? Auch die Frage: Darf Mehrdeutigkeit
überhaupt Grundlage gesellschaftlicher Ordnung sein? Planmäßig wurden in Folge
dessen in den Bildungszentren des karolingischen Reichs (wozu auch das Kloster
Lorsch an der Bergstraße zählte) „korrekte“ Texte (correctio') hergestellt. Die begriff-
liche Korrektheit übte man an klassischen Texten ein, die zu diesem Zweck abge-
schrieben wurden und uns daher heute erhalten sind. Dann emendierte man ver-
derbte Texte (emendatio'), um auf diese Weise höchstmögliche Verbindlichkeit zu
erreichen. Schließlich entwickelte man eine eindeutige Schrift, die karolingische
Minuskel, bei der es so gut wie keine Buchstaben- und Wortligaturen mehr gab und
jeder Buchstabe durch Ober- oder Unterlänge oder Mittelposition „eindeutig“ war:
So entstand die „lateinische Schrift“, die wir heute noch verwenden. Aber auch die
Gesetze, die Karl der Große erließ (meist in Form von „Kapitularien“) und die gera-
dezu in eine sakrale Aura gestellt wurden (wie die Lex Salica), strebten Einheitlich-
keit und Eindeutigkeit an - Grundlagen für die Stabilität der Reichsordnung und für
die Autorität des Herrschers.
Man könnte auch noch die Zeit des Humanismus hinzufügen. Damit wäre
eine weitere Epoche angesprochen, die ein hohes Maß an Eindeutigkeit in die