74
SITZUNGEN
gesamte kulturelle, wissenschaftliche und gesellschaftliche Ordnung eingebracht hat.
Solche Phasen wurden jedoch immer wieder abgelöst durch Zeiten, die von dem
Vorrang der Mehrdeutigkeit der Zeichen und der Regelsysteme gekennzeichnet
sind. Unsere heutige Zeit scheint zu diesen Epochen der „Unbestimmtheit“ zu
zählen. Publikationen wie „Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit“
(Zygmunt Baumann), „Die Postmoderne. Abschied von der Eindeutigkeit“ (Ron
Kubsch) oder „Der Verlust der Eindeutigkeit. Annäherung an Individuum und
Gesellschaft“ (Susanne Fuchs) und viele andere thematisieren diesen Prozess. Ist Stre-
ben nach „Eindeutigkeit“ kein Signum unserer Zeit mehr? Oder haben sich die
Ebenen der „Eindeutigkeit“ verändert?
Als Historiker wird man an diese Beobachtungen die Frage knüpfen, wodurch
solche Vereindeutigungs-Schübe ausgelöst wurden. Man wird den Blick darauf rich-
ten können, wer bei solchen historischen Prozessen die „Deutungshoheit“ ausübte.
Man wird sich damit zu beschäftigen haben, welche Medien und Symbole der Deu-
tungssicherung und der Behauptung von Eindeutigkeit entwickelt und eingesetzt
wurden. Das Ringen um Eindeutigkeit wurde, soviel kann man gewiss sagen, im
Mittelalter von einem starken religiös-moralischen Anspruch begleitet. Im religiösen
Bereich sollten liturgische Akte, die für das Seelenheil grundlegend waren, seit dem
11. Jahrhundert nur dann Gültigkeit erlangen, wenn die Regeln der Eindeutigkeit
erfüllt wurden. Devianz wurde mit Ausschluss aus der Gemeinschaft (Exkommuni-
kation) geahndet. Eindeutigkeit verlangte klare Grenzziehungen und Definitionen —
auch dies ein Postulat, das Anselm von Canterbury nachdrücklich betonte. Im übri-
gen spielte für den Eindeutigkeits-Anspruch die Sakralisierung eine wesentliche
Rolle: Transzendente Legitimierung schuf höchste Durchsetzungskraft.
„Eindeutigkeit“ ist ein Begriff, der in der Geschichtswissenschaft noch nicht
eingeführt ist. Ganz im Gegensatz dazu spielt er in einer Reihe von anderen Wis-
senschaftsdisziplinen eine zentrale Rolle, etwa im philosophischen, soziologischen,
rechtswissenschaftlichen, linguistischen oder naturwissenschaftlich-mathematischen
Diskurs. Inwieweit er auch für die Geschichtswissenschaft tragfähig ist, sollen weitere
Forschungen klären.
Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 15. April 2011
GESCHÄFTSSITZUNG
1. Endgültige Festsetzung der Tagesordnung
2. Zu wählen
Nach der jeweils zweiten Lesung einschließlich einer Diskussion werden Nicho-
las J. Conard, Altere Urgeschichte und Quartärökologie, Universität Tübingen,
sowie Andreas Kemmerling, Philosophie, Universität Heidelberg, für die Wahl in
der Gesamtsitzung empfohlen.
SITZUNGEN
gesamte kulturelle, wissenschaftliche und gesellschaftliche Ordnung eingebracht hat.
Solche Phasen wurden jedoch immer wieder abgelöst durch Zeiten, die von dem
Vorrang der Mehrdeutigkeit der Zeichen und der Regelsysteme gekennzeichnet
sind. Unsere heutige Zeit scheint zu diesen Epochen der „Unbestimmtheit“ zu
zählen. Publikationen wie „Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit“
(Zygmunt Baumann), „Die Postmoderne. Abschied von der Eindeutigkeit“ (Ron
Kubsch) oder „Der Verlust der Eindeutigkeit. Annäherung an Individuum und
Gesellschaft“ (Susanne Fuchs) und viele andere thematisieren diesen Prozess. Ist Stre-
ben nach „Eindeutigkeit“ kein Signum unserer Zeit mehr? Oder haben sich die
Ebenen der „Eindeutigkeit“ verändert?
Als Historiker wird man an diese Beobachtungen die Frage knüpfen, wodurch
solche Vereindeutigungs-Schübe ausgelöst wurden. Man wird den Blick darauf rich-
ten können, wer bei solchen historischen Prozessen die „Deutungshoheit“ ausübte.
Man wird sich damit zu beschäftigen haben, welche Medien und Symbole der Deu-
tungssicherung und der Behauptung von Eindeutigkeit entwickelt und eingesetzt
wurden. Das Ringen um Eindeutigkeit wurde, soviel kann man gewiss sagen, im
Mittelalter von einem starken religiös-moralischen Anspruch begleitet. Im religiösen
Bereich sollten liturgische Akte, die für das Seelenheil grundlegend waren, seit dem
11. Jahrhundert nur dann Gültigkeit erlangen, wenn die Regeln der Eindeutigkeit
erfüllt wurden. Devianz wurde mit Ausschluss aus der Gemeinschaft (Exkommuni-
kation) geahndet. Eindeutigkeit verlangte klare Grenzziehungen und Definitionen —
auch dies ein Postulat, das Anselm von Canterbury nachdrücklich betonte. Im übri-
gen spielte für den Eindeutigkeits-Anspruch die Sakralisierung eine wesentliche
Rolle: Transzendente Legitimierung schuf höchste Durchsetzungskraft.
„Eindeutigkeit“ ist ein Begriff, der in der Geschichtswissenschaft noch nicht
eingeführt ist. Ganz im Gegensatz dazu spielt er in einer Reihe von anderen Wis-
senschaftsdisziplinen eine zentrale Rolle, etwa im philosophischen, soziologischen,
rechtswissenschaftlichen, linguistischen oder naturwissenschaftlich-mathematischen
Diskurs. Inwieweit er auch für die Geschichtswissenschaft tragfähig ist, sollen weitere
Forschungen klären.
Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 15. April 2011
GESCHÄFTSSITZUNG
1. Endgültige Festsetzung der Tagesordnung
2. Zu wählen
Nach der jeweils zweiten Lesung einschließlich einer Diskussion werden Nicho-
las J. Conard, Altere Urgeschichte und Quartärökologie, Universität Tübingen,
sowie Andreas Kemmerling, Philosophie, Universität Heidelberg, für die Wahl in
der Gesamtsitzung empfohlen.