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ANTRITTSREDEN
Antrittsrede von Herrn NICHOLAS J. CONARD
an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 29. Oktober 2011.
Aus dem Blickwinkel wissenschaftlicher Systematik
würde ich mich selbst wahrscheinlich als Archäologe
bezeichnen. Ich liebe dieses Fachgebiet seit langem und
fühle, dass die Archäologie eine Berufung für mich dar-
stellt. Dennoch machte ich auf meinem Weg zum Lehr-
stuhlinhaber für Altere Urgeschichte und Quartäröko-
logie an der Eberhard Karls Universität in Tübingen
zunächst Studienabschlüsse in Chemie und Anthropo-
logie sowie einen interdisziplinären Abschluss in Phy-
sik, Geologie und Anthropologie. Meine Arbeit bewegt
sich schon lange an der Schnittstelle zwischen Natur-
und Geisteswissenschaften, und diese Nische war es
unter anderem auch, die mich zum Gebiet der Prähistorischen Archäologie und der
menschlichen Evolution hinzog.
Im Jahre 1961 wurde ich in Cincinnati, Ohio, und damit am Fluss Ohio gebo-
ren, der bis zu einem gewissen Grade als Trennlinie zwischen dem amerikanischen
Norden und dem Süden gesehen werden kann. Mein Vater und seine Familie, die vor
allem deutscher Abstammung war, hatten schon lange in Cincinnati gelebt. Auf
einem Umweg über die Universität Wien und die University of Cincinnati wurde
mein Vater Professor für Deutsche Literatur. Seine Hingabe an sein Fach brachte ihn
dazu, meinen beiden Brüdern, meiner Schwester und mir die Grundlagen der deut-
schen Sprache beizubringen. Ohne diesen Hintergrund des Deutschen wäre ich
heute wahrscheinlich nicht hier, um zu Ihnen zu sprechen. Meine Mutter ist aus
London und sehr britisch. Auf noch verschlungeneren Wegen durch größere Teile
Englands und das südliche Afrika traf sie in Wien meinen Vater und zog mit ihm
zunächst nach England und dann nach Ohio. Sie erwarb ihren Ph.D. in Englischer
Literatur. Vor diesem akademischen Hintergrund meiner Eltern ist es keine Über-
raschung, dass ich in einem Haus der Gelehrsamkeit aufwuchs und - gleichermaßen
wichtig - in einem der Wissbegierde, des politischen Engagements sowie leiden-
schaftlicher Diskussionen.
Ich wuchs größtenteils in Dayton, Ohio, auf, gegenüber der Hauptuniversität
dieser Stadt, und erlebte die ganze Aufgeregtheit und sozialpolitischen Umbrüche
der Präsidentschaften Johnsons, Nixons, Fords und Carters. Über die zahlreichen
mehr oder weniger üblichen Aktivitäten junger Männer hinaus begann ich 1976, auf
archäologischen Ausgrabungen des Dayton Museum of Natural History mitzuarbei-
ten. Seither habe ich lediglich im Jahre 1990, als ich meine Doktorarbeit in New
Haven, Connecticut, abschloss, und 1995, als ich meine gegenwärtige Stelle antrat
und mit meiner Frau nach Tübingen zog, keine archäologischen Geländearbeiten
durchgeführt. Neben anderen Personen bildete J. Heilman vom Dayton Museum
mich zu einem guten Geländearchäologen aus und zeigte mir, wie viel Vergnügen es
ANTRITTSREDEN
Antrittsrede von Herrn NICHOLAS J. CONARD
an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 29. Oktober 2011.
Aus dem Blickwinkel wissenschaftlicher Systematik
würde ich mich selbst wahrscheinlich als Archäologe
bezeichnen. Ich liebe dieses Fachgebiet seit langem und
fühle, dass die Archäologie eine Berufung für mich dar-
stellt. Dennoch machte ich auf meinem Weg zum Lehr-
stuhlinhaber für Altere Urgeschichte und Quartäröko-
logie an der Eberhard Karls Universität in Tübingen
zunächst Studienabschlüsse in Chemie und Anthropo-
logie sowie einen interdisziplinären Abschluss in Phy-
sik, Geologie und Anthropologie. Meine Arbeit bewegt
sich schon lange an der Schnittstelle zwischen Natur-
und Geisteswissenschaften, und diese Nische war es
unter anderem auch, die mich zum Gebiet der Prähistorischen Archäologie und der
menschlichen Evolution hinzog.
Im Jahre 1961 wurde ich in Cincinnati, Ohio, und damit am Fluss Ohio gebo-
ren, der bis zu einem gewissen Grade als Trennlinie zwischen dem amerikanischen
Norden und dem Süden gesehen werden kann. Mein Vater und seine Familie, die vor
allem deutscher Abstammung war, hatten schon lange in Cincinnati gelebt. Auf
einem Umweg über die Universität Wien und die University of Cincinnati wurde
mein Vater Professor für Deutsche Literatur. Seine Hingabe an sein Fach brachte ihn
dazu, meinen beiden Brüdern, meiner Schwester und mir die Grundlagen der deut-
schen Sprache beizubringen. Ohne diesen Hintergrund des Deutschen wäre ich
heute wahrscheinlich nicht hier, um zu Ihnen zu sprechen. Meine Mutter ist aus
London und sehr britisch. Auf noch verschlungeneren Wegen durch größere Teile
Englands und das südliche Afrika traf sie in Wien meinen Vater und zog mit ihm
zunächst nach England und dann nach Ohio. Sie erwarb ihren Ph.D. in Englischer
Literatur. Vor diesem akademischen Hintergrund meiner Eltern ist es keine Über-
raschung, dass ich in einem Haus der Gelehrsamkeit aufwuchs und - gleichermaßen
wichtig - in einem der Wissbegierde, des politischen Engagements sowie leiden-
schaftlicher Diskussionen.
Ich wuchs größtenteils in Dayton, Ohio, auf, gegenüber der Hauptuniversität
dieser Stadt, und erlebte die ganze Aufgeregtheit und sozialpolitischen Umbrüche
der Präsidentschaften Johnsons, Nixons, Fords und Carters. Über die zahlreichen
mehr oder weniger üblichen Aktivitäten junger Männer hinaus begann ich 1976, auf
archäologischen Ausgrabungen des Dayton Museum of Natural History mitzuarbei-
ten. Seither habe ich lediglich im Jahre 1990, als ich meine Doktorarbeit in New
Haven, Connecticut, abschloss, und 1995, als ich meine gegenwärtige Stelle antrat
und mit meiner Frau nach Tübingen zog, keine archäologischen Geländearbeiten
durchgeführt. Neben anderen Personen bildete J. Heilman vom Dayton Museum
mich zu einem guten Geländearchäologen aus und zeigte mir, wie viel Vergnügen es