23. Mai 2012
121
23. Mai 2012
DR. ILAS BARTUSCH
Forschungsstelle „Deutsche Inschriften des Mittelalters“
Jubelschall und Totenklage — Die Funktionen mittelalterlicher Glocken
im Spiegel ihrer Inschriften
Während der Glockenschall zu unseren alltäglichen akustischen Wahrnehmungen
zählt, bleibt das Klanginstrument selbst in der Regel unsichtbar. Um so erstaunlicher
ist es, dass man seiner formalen Gestaltung über die Jahrhunderte hinweg nicht
weniger Beachtung schenkte als der Ausprägung seiner Rippe, die Grund- und
Obertöne bestimmt. Mehr noch, fast ebenso variantenreich wie die Glockenzier
nehmen sich auch die Inschriften aus. Es lohnte daher, den Motiven für deren Aus-
wahl und Formulierung einmal im Einzelnen nachzugehen. Aufgrund der Viel-
schichtigkeit dieses Themas nahm der Vortrag allerdings nur die geweihten Turm-
glocken des Mittelalters in den Blick. Es ließ sich zeigen, dass vielfach ein unmittel-
barer Zusammenhang zwischen den der Glocke übertragenen Aufgaben und ihren
Inschriften bestand. Demnach sollte die heilbringende Wirkung des Läutens offen-
bar durch die sprachliche Fixierung der damit verknüpften Hoffnungen an der
Glockenschulter oder -flanke verstärkt werden. Die wichtigsten Grundfunktionen
der christlich-abendländischen Kirchenglocken lassen sich dabei vor allem aus ihrem
Weiheritus ableiten. Die bislang älteste Überlieferung findet sich in einem mozara-
bischen Liber Ordinum aus dem Jahre 1052, dessen liturgische Vorschriften wohl
aber bereits im ausgehenden 7. Jahrhundert galten.1 Nach den im 10. Jahrhundert
erstmals fassbaren Erweiterungen erfuhren sie dann interessanterweise über das
Tridentinum hinweg bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil nur noch marginale
Änderungen.2 Den hier verankerten Segensformeln entsprechend sollten die
Glocken vor allem bekehren, die Gläubigen zur Messe laden, sie im Glauben bestär-
ken und zum gesungenen Gotteslob anregen, aber auch den göttlichen Schutz
gegenüber Feinden, Dämonen und Naturgewalten erbitten. Viele der tradierten
Glockeninschriften nehmen auf diese Funktionen Bezug. Illustrierend lassen sich
dafür aus dem südwestdeutschen Raum zahlreiche Belege anführen, wie zum Bei-
spiel eine Glocke in Neckarsteinach aus dem 14. Jahrhundert, deren Inschrift sich an
die Evangelisten mit der Bitte um gutes Wetter wendet (DI 38 Bergstraße nr. 38)3:
1 Vgl. Andreas Heinz, Die Bedeutung der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus der
Glockenweihe, in: Information, Kommunikation und Selbstdarstellung in mittelalterlichen
Gemeinden, hg. v. Alfred Haverkamp u. a. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 40),
München 1998, 41—69, hier 43—47.
2 Vgl. Le pontifical romano-germanique du dixieme siede. Le texte, ed. Cyrille Vogel et Reinhard
Elze, avec Utilisation des collations laissees par Michel Andrieu (Studi e testi 226), Cittä del Vati-
cano 1963 (Repr. 1966), 185—190; Pontificale Romanum Clementis VIII. Pont. Max. iussu resti-
tutum atque editum, Rome 1595, 515—531.
3 Zum Kürzel DI vgl. auch im folgenden die Reihe Die Deutschen Inschriften, hg. v. d. Akade-
mien der Wissenschaften in Berlin, Düsseldorf, Göttingen, Heidelberg, Leipzig, Mainz, München
und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, bislang 85 Bde. erseh., Stuttgart,
Wiesbaden u.a. 1942IF.
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23. Mai 2012
DR. ILAS BARTUSCH
Forschungsstelle „Deutsche Inschriften des Mittelalters“
Jubelschall und Totenklage — Die Funktionen mittelalterlicher Glocken
im Spiegel ihrer Inschriften
Während der Glockenschall zu unseren alltäglichen akustischen Wahrnehmungen
zählt, bleibt das Klanginstrument selbst in der Regel unsichtbar. Um so erstaunlicher
ist es, dass man seiner formalen Gestaltung über die Jahrhunderte hinweg nicht
weniger Beachtung schenkte als der Ausprägung seiner Rippe, die Grund- und
Obertöne bestimmt. Mehr noch, fast ebenso variantenreich wie die Glockenzier
nehmen sich auch die Inschriften aus. Es lohnte daher, den Motiven für deren Aus-
wahl und Formulierung einmal im Einzelnen nachzugehen. Aufgrund der Viel-
schichtigkeit dieses Themas nahm der Vortrag allerdings nur die geweihten Turm-
glocken des Mittelalters in den Blick. Es ließ sich zeigen, dass vielfach ein unmittel-
barer Zusammenhang zwischen den der Glocke übertragenen Aufgaben und ihren
Inschriften bestand. Demnach sollte die heilbringende Wirkung des Läutens offen-
bar durch die sprachliche Fixierung der damit verknüpften Hoffnungen an der
Glockenschulter oder -flanke verstärkt werden. Die wichtigsten Grundfunktionen
der christlich-abendländischen Kirchenglocken lassen sich dabei vor allem aus ihrem
Weiheritus ableiten. Die bislang älteste Überlieferung findet sich in einem mozara-
bischen Liber Ordinum aus dem Jahre 1052, dessen liturgische Vorschriften wohl
aber bereits im ausgehenden 7. Jahrhundert galten.1 Nach den im 10. Jahrhundert
erstmals fassbaren Erweiterungen erfuhren sie dann interessanterweise über das
Tridentinum hinweg bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil nur noch marginale
Änderungen.2 Den hier verankerten Segensformeln entsprechend sollten die
Glocken vor allem bekehren, die Gläubigen zur Messe laden, sie im Glauben bestär-
ken und zum gesungenen Gotteslob anregen, aber auch den göttlichen Schutz
gegenüber Feinden, Dämonen und Naturgewalten erbitten. Viele der tradierten
Glockeninschriften nehmen auf diese Funktionen Bezug. Illustrierend lassen sich
dafür aus dem südwestdeutschen Raum zahlreiche Belege anführen, wie zum Bei-
spiel eine Glocke in Neckarsteinach aus dem 14. Jahrhundert, deren Inschrift sich an
die Evangelisten mit der Bitte um gutes Wetter wendet (DI 38 Bergstraße nr. 38)3:
1 Vgl. Andreas Heinz, Die Bedeutung der Glocke im Licht des mittelalterlichen Ritus der
Glockenweihe, in: Information, Kommunikation und Selbstdarstellung in mittelalterlichen
Gemeinden, hg. v. Alfred Haverkamp u. a. (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 40),
München 1998, 41—69, hier 43—47.
2 Vgl. Le pontifical romano-germanique du dixieme siede. Le texte, ed. Cyrille Vogel et Reinhard
Elze, avec Utilisation des collations laissees par Michel Andrieu (Studi e testi 226), Cittä del Vati-
cano 1963 (Repr. 1966), 185—190; Pontificale Romanum Clementis VIII. Pont. Max. iussu resti-
tutum atque editum, Rome 1595, 515—531.
3 Zum Kürzel DI vgl. auch im folgenden die Reihe Die Deutschen Inschriften, hg. v. d. Akade-
mien der Wissenschaften in Berlin, Düsseldorf, Göttingen, Heidelberg, Leipzig, Mainz, München
und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, bislang 85 Bde. erseh., Stuttgart,
Wiesbaden u.a. 1942IF.