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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2012 — 2013

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I. Das Geschäftsjahr 2012
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Bartusch, Ilas: Jubelschall und Totenklage – Die Funktionen mittelalterlicher Glocken im Spiegel ihrer Inschriften
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55656#0103
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122 | VERANSTALTUNGEN

LVCAS • MARCVS • MATTEVS ■ SANTVS ■ IOHANNES • DER • VALDE ■
DES ■ VEDDERS - ALES Vielfach bestehen die apotropäisch ausgerichteten Texte
auch nur aus magischen Schutzformeln, wie etwa dem beschwörenden Gottesnamen
+ TETRA GRAMATON auf einer Herrenberger Glocke des 12. Jahrhunderts (DI
47 Böblingen nr. 2). Einer Einladung zur Messe entspricht indessen das häufig ver-
wendete Formular VOX EGO SVM VITE VOCO VOS ORAREVENITE (Übers.:
Ich bin die Stimme des Lebens, ich rufe euch, kommt beten.), wie es unter anderem
auf einer kleinen Glocke in Selbach (Lkr. Rastatt) Verwendung fand (DI 78 Baden-
Baden/Rastatt nr. 5). Zum gesungenen Gotteslob ermahnt hingegen eine Glocke
aus Tauberbischofsheim mit dem ebenfalls leoninisch gereimten Hexameter (DI 1
Badischer Main- und Taubergrund nr. 431): (...) + SVRGITE • CONCINITE •
BONA ■ CANTICA ■ CONSONA ■ VITE (Übers.: Erhebt euch und singt wohl-
tönende Lieder, die mit dem Leben im Einklang stehen.).
Im Laufe der Zeit erhielten die Glocken aber auch Aufgaben, die innerhalb des
Weiheritus nicht oder nur pauschal angesprochen werden. Dazu zählt vor allem die
Aufforderung zum individuellen Gebet. Während Glocken in Klöstern schon sehr
früh dafür benutzt wurden, um die Konventsmitglieder zum gemeinsamen Stunden-
gebet zusammenzurufen, bürgerte sich in Laiengemeinden das Glockenzeichen als
Aufruf zum privaten Gebet außerhalb der Messe erst in hochmittelalterlicher Zeit
ein. Diese Tradition scheint bereits in den Akten des Konzils von Caen (1061) auf,
erfuhr aber in der zweiten Hälfte 13. Jahrhunderts eine enorme Verstärkung, nach-
dem Ordensgeneral Bonaventura 1262 den Franziskanern die Weisung erteilt hatte,
alle Gläubigen zu einem dreimaligen Ave-Maria während des Abendläutens anzu-
halten.4 Dieser Brauch spiegelt sich in den zahlreichen Glocken wider, die dieses
Gebet tragen und zu denen auch jene aus dem Zisterzienserkloster Schönau gehört
(siehe Abb.; vgl. DI 63 Odenwaldkreis nr. 1 8).
In engem Zusammenhang mit der Mahnung zum Gebet stand insbesondere
das Totengeläut. Der französische Liturgiker Guillaume Durand stellte in seinem
noch vor 1291 verfassten Rationale divinornm officiornm ausdrücklich heraus, dass die
Gemeinde nach dem Ableben eines ihrer Mitglieder dadurch zur Fürbitte aufgeru-
fen werden solle.5 Angesichts dieses nahezu alltäglichen Glockengebrauchs verwun-
dert es nicht, dass viele der Inschriften auf Tod und Trauer Bezug nehmen. Als pro-
minentes Beispiel diene hier der von Friedrich Schiller seinem „Lied von der
Glocke“ vorangestellte Reim von der 1486 gegossenen Schaffhauser Glocke: Vivos
voco, mortuos plango,fulgura frango (Übers.: Ich rufe die Lebenden, beweine die Toten
und breche die Blitze).6 Ein besonderes Totengeläut rief daneben jeden Freitag-
Nachmittag das Hinscheiden Christi am Kreuz in Erinnerung, wurde in den
Inschriften aber nur selten so konkret wie auf einer Essener Domglocke aus dem

4 Vgl. Thomas Esser, Das Ave-Maria-Läuten und der „Engel des Herrn“ in ihrer geschichtlichen
Entwicklung, in: Historisches Jahrbuch 23 (1902) 22—51, 247—269, 775—825, hier 27.
5 Guillelmi Duranti rationale divinorum officiorum I—IV, ed. A. Davril etT.M.Thibodeau (Corpus
Christianorum Continuatio Mediaevalis CXL),Turnholti 1995, 56.
6 Vgl. die entsprechende Inschrift in Glockenkunde, bearb. v. Karl Walter, Regensburg 1913, 266.
 
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