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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2012 — 2013

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I. Das Geschäftsjahr 2012
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Greenblatt, Stephen: Alien Visions: The Renaissance Reception of Lucretius: Heidelberger Akademie-Vorlesung 27. Oktober 2012
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https://doi.org/10.11588/diglit.55656#0110
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27. Oktober 2012 | 129

HEIDELBERGER AKADEMIE-VORLESUNG
27. Oktober 2012
STEPHEN J. GREENBLATT
Alien Visions:The Renaissance Reception ofLncretius
Mit Stephen J. Greenblatt kam ein weiterer Gelehrter von Weltrang nach Heidel-
berg, um die jährlich von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften veranstal-
tete öffentliche „Heidelberger Akademie-Vorlesung“ zu halten. Der Pulitzerpreisträ-
ger von 2012 lehrt als Professor für Englische und Amerikanische Literatur und
Sprache an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts. Als führender
Theoretiker des New Historicism ist er einer der angesehensten Forscher zu Werk
sowie Kultur und Literatur der Renaissance.
Sein Vortrag handelte von dem durch den Humanisten Poggio Bracciolini zu
Beginn des 15. Jahrhunderts wiederentdeckten Lehrgedicht „De rerum natura“
(Uber die Natur der Dinge) des römischen Philosophen Lukrez. Der Inhalt des
Gedichts hatte Greenblatt zufolge in dieser Zeit enorme Sprengkraft und wurde zu
einem Geburtshelfer der Moderne. Denn der Text mit seinen unerhörten Gedanken
über die Natur der Dinge habe den Menschen des ausgehenden Mittelalters neue
Horizonte eröffnet, die beginnende Renaissance befeuert und bilde die Basis unse-
rer modernen Weitsicht.
Greenblatt begann seinen Vortrag mit einem Blick auf das Europa des 15. Jahr-
hunderts, das seiner Auffassung nach eine zutiefst christliche und intolerante Welt
war. Er selbst fasst zusammen: „I begin with a discussion of the conjunction, in early
Christianity, of monotheism, universalism, and the search for doctrinal coherence. This conjun-
ction produced an attitude toward alternative and competing accounts of ultimate truths quite
different front that of either paganism or rabbinical Jndaism. A crucial Interpretation of the
parable of the Talents, in Augustine, led to the Justification of a regime of intolerance and the
persecution of heretical ideas. ”
In dieser Welt kam nach Jahrhunderten Lukrez’ Lehrgedicht wieder ans Tages-
licht. Zentrale Ideen dieses Textes stammen vom griechischen Philosophen Epikur.
Schnell erkannten gelehrte Zeitgenossen die Ungeheuerlichkeit dieses Textes, die
Greenblatt ausführlich erläuterte. Da heißt es etwa, die ganze Welt bestünde nur aus
winzigen, wahllos zusammengesetzten Atomen. Kein Gott habe Natur und Men-
schen erschaffen. Wenn es überhaupt so etwas wie Götter gäbe, seien diese an der
Welt nicht interessiert und somit belanglos. Die Menschen hörten nach dem Tod
vollkommen auf zu existieren, denn die Seele stürbe und zerfalle in unzählige
Atome. Diese Ideen lösten in der Renaissance helle Empörung, Ablehnung oder
Unverständnis aus. „Kein anständiger Mensch wollte und konnte sich öffentlich zu
dem Text bekennen“, sagt Greenblatt. Denn ohne Religion befürchteten viele Zeit-
genossen den Zusammenbruch der Gesellschaft. Es dauerte nicht lange, bis Lukrez
zu den am schärfsten verbotenen Autoren des wiederentdeckten heidnischen
Schrifttums avancierte.
 
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