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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2012 — 2013

DOI Kapitel:
I. Das Geschäftsjahr 2012
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Koch, Anton Friedrich: Ethik und Wissenschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.55656#0054
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21. Januar 2012

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HERR ANTON FRIEDRICH KOCH HÄLT EIN IMPULSREFERAT:
„Ethik und Wissenschaft“.
Die Ethik gilt zwar als Teilgebiet der Philosophie; aber die Philosophie ist eine aprio-
rische Disziplin, und mit Argumenten a priori kommt man in der Ethik nicht weit.
A priori kann man endlos diskutieren, ob oder inwiefern Organspenden, Adoptio-
nen, Abtreibungen, Sterbehilfen usw. tunlich sind. Man glaubt, man argumentiere
vernünftig für das objektiv Gebotene und redet doch nur der persönlichen Weltan-
schauung das Wort.
Zur apriorischen Philosophie gehört die Metaethik: die Analyse der logischen
Form ethischer Aussagen. Kant glaubte, von der Metaethik („Kritik der praktischen
Vernunft“) deduktiv zur Ethik („Metaphysik der Sitten“) übergehen zu können.
Aber sein metaethisches Universalisierungsprinzip ist zu unbestimmt für die Herlei-
tung wohlbestimmter Pflichten. Der kategorische Imperativ: „Handle so, dass die
Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz sein könnte“, lässt zu viel Spiel-
raum für begriffliche Bastelarbeit. Ein Zyniker könnte ihn so umformulieren:
„Handle, wie du willst, und denk dir universalisierbare Ausreden aus“. Wie gut das
funktioniert, belegt der Terrorismus, der um Begründungen seines verbrecherischen
Tuns nie verlegen ist.
Nun muten wir moralisches Handeln allen Menschen zu. Die Ethik kann also
kein Expertenwissen sein. Andererseits stellen wir fest, dass in verschiedenen Kollek-
tiven verschiedene Normen hochgehalten werden, und das verunsichert uns, zumal
wir selber verschiedenen Kollektiven angehören: einer Familie, einem Land, einer
Religionsgemeinschaft, einer Akademie usw. So geraten wir leicht in moralische
Verwirrung und verdrängen unser ethisches Elementarwissen, das wir mit allen
Menschen teilen. Und da hilft nun nicht die Philosophie mit ihrer Metaethik, son-
dern die Empirie: das Hinschauen, wie menschliches Leben funktioniert und unter
welchen Bedingungen es halbwegs gelingt.
Was heißt „Gelingen“? fragt sogleich der Metaethiker, und auf der metaethi-
schen Ebene lässt sich auch einiges darüber sagen. Nach Aristoteles etwa ist das gelin-
gende Leben das maximale Element einer Halbordnung von Tätigkeiten unter der
Zweck-Mittel-Relation: das, um dessentwillen wir alles tun, was wir tun. Aber für
das Handeln folgt daraus wenig Wohlbestimmtes und Konkretes. Also gilt es näher
hinzuschauen, wie menschliches Leben gelingt. Wichtig für die Ethik ist insofern vor
allem die Anthropologie. Ich wähle zur Illustration ein Beispiel des Anthropologen
David Graeber (aus seinem Buch Debt. The First 5000Years, New York 2011).
Gesellschaften, in denen sich die Ehre einer Familie an der Jungfräulichkeit der
unverheirateten Töchter bemisst, mögen uns irrational erscheinen. Aber in vielen
Gesellschaften am Mittelmeer und im Nahen Osten war vor Zeiten Schuldsklaverei
üblich, wie schon im Alten Testament zu lesen ist: „Wir müssen unsere Söhne und
unsere Töchter dem Knechtsdienst unterwerfen: und manche von unseren Töchtern
sind schon unterworfen, und es steht nicht in der Macht unserer Hände, sie zu lösen;
unsere Felder und Weinberge gehören ja anderen.“ (Nehemia 5, 5) — Stellen Sie sich
also vor, Sie geraten mit der Zahlung von Kreditraten in Verzug. Die Bank schickt
 
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