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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2012 — 2013

DOI Kapitel:
I. Das Geschäftsjahr 2012
DOI Artikel:
Koch, Anton Friedrich: Ethik und Wissenschaft
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55656#0055
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SITZUNGEN

den Gerichtsvollzieher, der Ihre Kinder zu Dienstleistungen pfändet, was sexuelle
Dienstleistungen einschließt. Ihre Älteste kommt in den Haushalt des Filialleiters, die
Zweite zum Anlageberater, der Sohn zum Hausmeister. Die Nachbarn tuscheln: Sie
gelten als Loser, der seine Kinder nicht vor Fron und Schmach schützen konnte. —
So konnte die Jungfräulichkeit der Töchter zum Indikator der Kreditwürdigkeit
werden. Wer jungfräuliche Töchter hatte, war kein Bankrotteur.
Nun gibt es nicht nur Phantomschmerzen, sondern auch Erinnerungsschmer-
zen. Kinder schonen verletzte Glieder noch, wenn sie längst geheilt sind. In ähnlicher
Weise spüren die betroffenen Gesellschaften bis heute einen kollektiven Erinne-
rungsschmerz. Obwohl keine sexuelle Schuldsklaverei mehr droht, bemisst sich, wie
einst die finanzielle, so jetzt die gesellschaftliche und moralische Kreditwürdigkeit
einer Familie an der Jungfräulichkeit ihrer unverheirateten Töchter.
Ob diese Erzählung nun historisch zutrifft oder nicht, so illustriert sie doch
die Relevanz der Anthropologie für die Ethik. Sie hilft uns im gedachten Fall zweier-
lei zu sehen: (1) Vermeintlich seltsame Sitten und Wertungen lassen sich mitunter auf
gute Gründe zurückführen. (2) Gute Gründe wirken mitunter nach in Gewohnhei-
ten, die nach dem Entfallen der Gründe nunmehr schlechte Gewohnheiten sind.
Die Anthropologie ist eine wirkliche Wissenschaft. Eine mögliche Wissenschaft
wäre eine beweismittelorientierte Ethik nach dem Vorbild der evidenzbasierten
Medizin. Ich denke an bestimmte Aspekte der letzteren, nämlich an Folgestudien
und Langzeitergebnisse nach medizinischen Eingriffen. Wie geht es etwa Patienten
zwei, fünf, zehn Jahre nach einer Beipassoperation im Vergleich zu Patienten, die in
ähnlicher Lage keinen Beipass erhalten? Solche Studien sind methodisch anspruchs-
voll, vor allem braucht man hinreichend große Patientenkollektive, um die zufälligen
Folgen von individuellen Aspekten der Situation zu neutralisieren.
Methodisch noch viel kniffliger dürfte die Übertragung auf ethische Problem-
fälle sein. Wie geht es Personen fünf, zehn, zwanzig, fünfzig Jahre nach einer Ent-
scheidung für oder gegen eine Abtreibung, Adoption, Sterbehilfe usw. im Vergleich
mit Personen, die in ähnlicher Lage anders entschieden haben? Und wie geht es
ihren nächsten Angehörigen? Wie geht es ihnen und den Angehörigen mit Blick auf
das Problem, das damals gelöst werden sollte, und wie geht es ihnen in anderen Hin-
sichten? Man würde gewiss viele Überraschungen erleben.
Die methodischen Probleme für eine nachweisorientierte Ethik wären freilich
enorm. Man bräuchte große Probandenkollektive und Verfahren um die Wie-geht-
es-Frage zu objektivieren. Es ist schon schwer genug, objektiv zu sagen, wie es
jemandem gesundheitlich geht, noch viel schwerer dürfte es sein, objektiv anzuge-
ben, wie es jemandem in ethischer Hinsicht, also mit Blick auf das Gelingen des
Lebens im Ganzen geht.
Vermutlich werden wir eine evidenzbasierte Ethik also nie bekommen. Unter-
dessen müssen etablierte Wissenschaften wie die Anthropologie, die Psychologie, die
Psychiatrie, die Geschichtsschreibung und andere einspringen. Von der apriorischen
Philosophie jedenfalls dürfen wir uns für die Ethik wohl nicht allzu viel Aufschluss
erwarten. Um so beruhigender ist da der Sachverhalt, dass ethisches Wissen kein
Expertenwissen sein kann, sondern uns allen als etwas ganz Elementares zurVerfü-
 
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