Jens Halfwassen | 149
als die überaus merkwürdige Eröffnung am Ende des Sonnengleichnisses, dass der
Urgrund, dem alles Sein und Erkennbarkeit verdankt, kein höchstes Wesen ist, son-
dern „noch jenseits des Seins“, umschreibbar allein in Negationen. Nach und nach
las ich alle Dialoge. Platon ließ mich nicht mehr los — und daran hat sich bis heute
nichts geändert.
So hatte ich am Ende der Pubertät nicht nur den protestantischen Kir-
chenglauben verloren, in den ich in einem religiös musikalischen Elternhaus hinein-
gewachsen war, sondern den Glauben an die Realität der materiellen Welt gleich
mit. Also musste ich Philosophie studieren. Eigentlich hatte ich Geschichte studieren
und Historiker werden wollen. Die Liebe zur Geschichte verband sich indes pro-
blemlos mit dem Bedürfnis, die mich bedrängenden philosophischen Fragen zu
klären, zumal diejenige Philosophie, von der ich mir am ehesten Antworten erhoff-
te, die antike Philosophie war. Die Liberalität der Vor-Bologna-Universität erlaubte
mir, meinen Wissensdrang in beiden Fächern auszuleben, ohne Rücksicht auf Regel-
studienzeiten und Module. Geboren 1958 und aufgewachsen bin ich im Rheinland,
und so lag die traditionsreiche Universität Köln als Studienort nahe. Dort lehrten
damals faszinierende Professoren: Karl Bormann (mein späterer Doktorvater), Karl-
Heinz Volkmann-Schluck und Klaus Düsing in Philosophie, in Geschichte Gustav-
Adolf Lehmann, Werner Eck, Erich Meuthen und Johannes Kunisch sowie Reinhold
Merkelbach und Clemens Zintzen in Klassischer Philologie. Bei den Historikern gab
es einen frisch habilitierten Assistenten, den wir Studenten für einen kommenden
Star hielten, und wir irrten uns nicht: Stefan Weinfurter. Am Ende des Studiums
musste ich mich entscheiden: wollte ich meine Doktorarbeit über die Vorgeschichte
des spanischen Erbfolgekriegs schreiben oder über Plotin? Ich konnte Plotin nicht
widerstehen und so bin ich Berufsphilosoph geworden, übrigens nicht ohne Beden-
ken, weil ich überzeugt war, dass die Geschichte das seriösere akademische Fach ist.
Plotin hatte mich schon seit Beginn meines Studiums fasziniert. Er half mir,
Platon besser zu verstehen. Die intelligible Realität der Ideen, die die Seele nach
ihrer Umwendung in sich entdeckt, wird in Platons Dialogen ja immer nur sehr
umrisshaft enthüllt, und noch umrisshafter die Art und Weise, wie die Ideen in jenem
Urgrund fundiert sind, der „noch jenseits des Seins“ ist — dabei käme darauf doch
eigentlich alles an. Bei Plotin wird das alles in einer detailliert ausgeführten Meta-
physik des Absoluten, des Geistes und der Seele ausgearbeitet, und diese Metaphysik
will gar nichts anderes sein als Interpretation der Philosophie Platons. Aus den
Platon-Arbeiten Hans-Joachim Krämers lernte ich, dass Platons Philosophie über
das, was die Dialoge direkt aussprechen, weit hinausreicht, dass hinter den Schriften
eine „ungeschriebene“ Prinzipienphilosophie steht, deren Ähnlichkeit mit dem
Neuplatonismus unverkennbar ist. In meiner Dissertation habe ich das Verhältnis
Plotins zu Platon im Blick auf das Absolute, das „Eine“, aufgerollt und fast vollstän-
dige Übereinstimmung gefunden.
Nach der Promotion, 1989, hatte ich dann großes Glück: ich bekam eine Assis-
tentenstelle und fand ein Habilitationsthema, das meinen Horizont weitete, weil es
mich zwang, über die antike Philosophie hinauszugehen. Mein neuer Chef, Klaus
Düsing, war eine Koryphäe der Hegel-Forschung. Er machte mich darauf aufmerk-
als die überaus merkwürdige Eröffnung am Ende des Sonnengleichnisses, dass der
Urgrund, dem alles Sein und Erkennbarkeit verdankt, kein höchstes Wesen ist, son-
dern „noch jenseits des Seins“, umschreibbar allein in Negationen. Nach und nach
las ich alle Dialoge. Platon ließ mich nicht mehr los — und daran hat sich bis heute
nichts geändert.
So hatte ich am Ende der Pubertät nicht nur den protestantischen Kir-
chenglauben verloren, in den ich in einem religiös musikalischen Elternhaus hinein-
gewachsen war, sondern den Glauben an die Realität der materiellen Welt gleich
mit. Also musste ich Philosophie studieren. Eigentlich hatte ich Geschichte studieren
und Historiker werden wollen. Die Liebe zur Geschichte verband sich indes pro-
blemlos mit dem Bedürfnis, die mich bedrängenden philosophischen Fragen zu
klären, zumal diejenige Philosophie, von der ich mir am ehesten Antworten erhoff-
te, die antike Philosophie war. Die Liberalität der Vor-Bologna-Universität erlaubte
mir, meinen Wissensdrang in beiden Fächern auszuleben, ohne Rücksicht auf Regel-
studienzeiten und Module. Geboren 1958 und aufgewachsen bin ich im Rheinland,
und so lag die traditionsreiche Universität Köln als Studienort nahe. Dort lehrten
damals faszinierende Professoren: Karl Bormann (mein späterer Doktorvater), Karl-
Heinz Volkmann-Schluck und Klaus Düsing in Philosophie, in Geschichte Gustav-
Adolf Lehmann, Werner Eck, Erich Meuthen und Johannes Kunisch sowie Reinhold
Merkelbach und Clemens Zintzen in Klassischer Philologie. Bei den Historikern gab
es einen frisch habilitierten Assistenten, den wir Studenten für einen kommenden
Star hielten, und wir irrten uns nicht: Stefan Weinfurter. Am Ende des Studiums
musste ich mich entscheiden: wollte ich meine Doktorarbeit über die Vorgeschichte
des spanischen Erbfolgekriegs schreiben oder über Plotin? Ich konnte Plotin nicht
widerstehen und so bin ich Berufsphilosoph geworden, übrigens nicht ohne Beden-
ken, weil ich überzeugt war, dass die Geschichte das seriösere akademische Fach ist.
Plotin hatte mich schon seit Beginn meines Studiums fasziniert. Er half mir,
Platon besser zu verstehen. Die intelligible Realität der Ideen, die die Seele nach
ihrer Umwendung in sich entdeckt, wird in Platons Dialogen ja immer nur sehr
umrisshaft enthüllt, und noch umrisshafter die Art und Weise, wie die Ideen in jenem
Urgrund fundiert sind, der „noch jenseits des Seins“ ist — dabei käme darauf doch
eigentlich alles an. Bei Plotin wird das alles in einer detailliert ausgeführten Meta-
physik des Absoluten, des Geistes und der Seele ausgearbeitet, und diese Metaphysik
will gar nichts anderes sein als Interpretation der Philosophie Platons. Aus den
Platon-Arbeiten Hans-Joachim Krämers lernte ich, dass Platons Philosophie über
das, was die Dialoge direkt aussprechen, weit hinausreicht, dass hinter den Schriften
eine „ungeschriebene“ Prinzipienphilosophie steht, deren Ähnlichkeit mit dem
Neuplatonismus unverkennbar ist. In meiner Dissertation habe ich das Verhältnis
Plotins zu Platon im Blick auf das Absolute, das „Eine“, aufgerollt und fast vollstän-
dige Übereinstimmung gefunden.
Nach der Promotion, 1989, hatte ich dann großes Glück: ich bekam eine Assis-
tentenstelle und fand ein Habilitationsthema, das meinen Horizont weitete, weil es
mich zwang, über die antike Philosophie hinauszugehen. Mein neuer Chef, Klaus
Düsing, war eine Koryphäe der Hegel-Forschung. Er machte mich darauf aufmerk-