26. Juni 2013
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Für junge Menschen ist die erste Liebe „das Schönste ... was ein Herz ... emp-
finden kann“, denn „zu der Zeit liebt sich's am besten, wenn man noch denkt, dass
man allein liebt und noch kein Mensch so geliebt hat und je lieben werde”, so erin-
nert sich der zweiundsechzigjährige Goethe. Um so bitterer — so hoffen wir, Jahr-
zehnte nach der ersten Liebe — das Bewusstsein, (vielleicht) ein letztes Mal zu lieben:
„Der Mensch erfährt, er sei auch, wer er mag, | Ein letztes Glück und einen letzten
Tag. | Dies gibt man zu — doch wer gesteht sich frei, | Dass diese Liebe nun die letzte
sei?“ So sinniert Elisabeth I. von England in Goethes Prolog zum englischen Trau-
erspiel ‘Essex’. Unabhängig vom Alter ist es „eine grässliche Empfindung, seine Liebe
sterben zu sehen“ — nicht die geliebte Person ist hier gemeint, sondern das eigene
Gefühl, das verblasst. Schließlich, so heißt es in Goethes Einakter ‘Die Geschwister’,
ist die Liebe „eine Sache, woran man nie den Geschmack verliert“. „Und doch,
welch Glück! geliebt zu werden, | Und lieben, Götter, welch ein Glück!“ lauten die
Schlussverse von ‘Willkommen und Abschied’.
Die Welt des Liebenden ist eine andere als die des In-sich-Verschlossenen, das
Lieben öffnet Augen und Herz nicht nur für die geliebte Person, sondern für die
Schönheit der Welt. Es befreit den Menschen von seiner „Dickhirnschaligkeit“, der
„selbstischen“ Fixierung auf die eigene Person und von dem verstockten Beharren
auf dem, was dieses Selbst für richtig und wichtig hält. Der indische Psychoanalyti-
ker und Kulturwissenschaftler Sudhir Kakar, dessen Lebenserinnerungen kürzlich
auch auf Deutsch erschienen sind, bezeichnet das Verliebtsein als „den höchsten Grad
der Annäherung an den Zustand mystischer Gnade”. — „Es geht mir schlecht, denn
ich bin weder verliebt, noch ist jemand in mich verliebt“ gesteht Goethe dem Kanz-
ler von Müller im Jahr 1822, also ein Jahr vor seiner letzten Liebe. „Leben muss man
und lieben; es endet Leben und Liebe. | Schnittest du, Parze, doch nur beiden die
Fäden zugleich!”, so der fromme Wunsch in Goethes Gedichtzyklus ‘Die vier Jah-
reszeiten’. — „II n’y a rien de reel au monde que l’amour“ befand Madame de Stael:
In der Welt gibt es nichts Wirkliches/nichts Wahres/nichts, an dem wir uns festhal-
ten können, als die Liebe. Wer das Leben liebt, der liebt auch die Liebe - und nicht
nur ihren Gegenstand, die begehrte Person. „Ich bin verliebt in die Liebe, und viel-
leicht auch in Dich“ schmetterte Schlagerbarde Chris Roberts in den Siebziger Jah-
ren. Selber zu lieben, lieben zu können bereichert das Leben, sogar in der Beziehung
zu Gott. Goethe war tief berührt von Spinozas „wunderlichem Wort: Wer Gott recht
liebt, muss nicht verlangen, dass Gott ihn wieder liebe”. Und ausgerechnet einen
Widerhall dieser hehren Sentenz legt Goethe der leichtlebigen und leichtliebigen
Philine in den schönen Mund: „Und wenn ich Dich lieb habe, was geht’s Dich an?“
— Es ist wunderbar, wenn Liebe erwidert wird, aber für das, was Liebe, das eigene
Lieben aus den Menschen machen kann, wie es sie verwandelt, kommt es darauf
nicht einmal an. „All you need is to love“, darin sind sich einig: John Lennon und
John Goethe.
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Für junge Menschen ist die erste Liebe „das Schönste ... was ein Herz ... emp-
finden kann“, denn „zu der Zeit liebt sich's am besten, wenn man noch denkt, dass
man allein liebt und noch kein Mensch so geliebt hat und je lieben werde”, so erin-
nert sich der zweiundsechzigjährige Goethe. Um so bitterer — so hoffen wir, Jahr-
zehnte nach der ersten Liebe — das Bewusstsein, (vielleicht) ein letztes Mal zu lieben:
„Der Mensch erfährt, er sei auch, wer er mag, | Ein letztes Glück und einen letzten
Tag. | Dies gibt man zu — doch wer gesteht sich frei, | Dass diese Liebe nun die letzte
sei?“ So sinniert Elisabeth I. von England in Goethes Prolog zum englischen Trau-
erspiel ‘Essex’. Unabhängig vom Alter ist es „eine grässliche Empfindung, seine Liebe
sterben zu sehen“ — nicht die geliebte Person ist hier gemeint, sondern das eigene
Gefühl, das verblasst. Schließlich, so heißt es in Goethes Einakter ‘Die Geschwister’,
ist die Liebe „eine Sache, woran man nie den Geschmack verliert“. „Und doch,
welch Glück! geliebt zu werden, | Und lieben, Götter, welch ein Glück!“ lauten die
Schlussverse von ‘Willkommen und Abschied’.
Die Welt des Liebenden ist eine andere als die des In-sich-Verschlossenen, das
Lieben öffnet Augen und Herz nicht nur für die geliebte Person, sondern für die
Schönheit der Welt. Es befreit den Menschen von seiner „Dickhirnschaligkeit“, der
„selbstischen“ Fixierung auf die eigene Person und von dem verstockten Beharren
auf dem, was dieses Selbst für richtig und wichtig hält. Der indische Psychoanalyti-
ker und Kulturwissenschaftler Sudhir Kakar, dessen Lebenserinnerungen kürzlich
auch auf Deutsch erschienen sind, bezeichnet das Verliebtsein als „den höchsten Grad
der Annäherung an den Zustand mystischer Gnade”. — „Es geht mir schlecht, denn
ich bin weder verliebt, noch ist jemand in mich verliebt“ gesteht Goethe dem Kanz-
ler von Müller im Jahr 1822, also ein Jahr vor seiner letzten Liebe. „Leben muss man
und lieben; es endet Leben und Liebe. | Schnittest du, Parze, doch nur beiden die
Fäden zugleich!”, so der fromme Wunsch in Goethes Gedichtzyklus ‘Die vier Jah-
reszeiten’. — „II n’y a rien de reel au monde que l’amour“ befand Madame de Stael:
In der Welt gibt es nichts Wirkliches/nichts Wahres/nichts, an dem wir uns festhal-
ten können, als die Liebe. Wer das Leben liebt, der liebt auch die Liebe - und nicht
nur ihren Gegenstand, die begehrte Person. „Ich bin verliebt in die Liebe, und viel-
leicht auch in Dich“ schmetterte Schlagerbarde Chris Roberts in den Siebziger Jah-
ren. Selber zu lieben, lieben zu können bereichert das Leben, sogar in der Beziehung
zu Gott. Goethe war tief berührt von Spinozas „wunderlichem Wort: Wer Gott recht
liebt, muss nicht verlangen, dass Gott ihn wieder liebe”. Und ausgerechnet einen
Widerhall dieser hehren Sentenz legt Goethe der leichtlebigen und leichtliebigen
Philine in den schönen Mund: „Und wenn ich Dich lieb habe, was geht’s Dich an?“
— Es ist wunderbar, wenn Liebe erwidert wird, aber für das, was Liebe, das eigene
Lieben aus den Menschen machen kann, wie es sie verwandelt, kommt es darauf
nicht einmal an. „All you need is to love“, darin sind sich einig: John Lennon und
John Goethe.