144 | VERANSTALTUNGEN
In der sexuellen Monogamie sieht Goethe ein wesentliches Problem der inti-
men Beziehung: „Wen man täglich von früh bis Abend sieht, der kann uns nicht
mehr verfuhren.“ Daher sei es „einer eignen Betrachtung wert, dass die Gewohnheit
sich vollkommen an die Stelle der Liebesleidenschaft setzen kann, sie — die Gewohn-
heit — fordert nicht sowohl eine anmutige als eine bequeme Gegenwart, alsdann aber
ist sie unüberwindlich. Es gehört viel dazu, ein gewohntes Verhältnis aufzugeben, es
besteht gegen alles Widerwärtige; Missvergnügen, Unwillen, Zorn vermögen nichts
gegen dasselbe, ja es überdauert die Verachtung, den Hass.“ - Aber es geht auch
anders — wer länger mit Goethe zu tun hatte, weiß, dass bei ihm zu jeder Position,
zu jeder Aussage, kühnen These oder Stellungnahme auch irgendwo und irgendwann
das Gegenteil zu finden ist. Goethe, der Dialektiker - das passt zu seiner dynamischen
Weitsicht. — In seiner Stanzenballade ‘Das Tagebuch’ erzählt er von der Verführung
eines Reisenden durch „die Göttin Gelegenheit”: Wegen nächtlichen Radbruchs
nur einige Meilen von Heim und Weib zur Übernachtung in einem Gasthof
genötigt, trifft ein Handelsreisender dort, unter dem Personal, auf eine Schöne, die
er sogleich heiß begehrt — und die tatsächlich nach Arbeitsschluss in sein Zimmer
kommt. Doch ausgerechnet da versagt „der Meister Iste“ seinen Dienst und wird erst
wieder rege, als der Reisende an seine Frau daheim und ihre ersten sexuellen Begeg-
nungen denkt. Darüber wird ihm klar, wen und wie sehr er wirklich liebt, und er
zieht aus der Begebenheit folgende, fast schon moritatenhafte Lehre: „Wir stolpern
wohl auf unsrer Lebensreise, | Und doch vermögen in der Welt, der tollen, | Sehr viel
die Pflicht, unendlich mehr die Liebe!“ Auch hier sticht Paulus wieder Kant aus.
Nicht immer jedoch geht es bei Goethe so moralisch zu, zumindest, wenn es um die
sexuelle Treue seiner Romanfiguren geht. Eines aber hält er in einer Beziehung für
unverzichtbar: die schon erwähnte partnerschaftliche Solidarität und Fürsorglichkeit,
die das ist, was Goethe als ‘Treue bezeichnet. Das ist dann Allernächstenliebe.
Was fehlt noch? Die Antike unterscheidet von Eros und Agape noch eine drit-
te Form, die Philia, Freundesliebe. Selbstverständlich spielt auch die, vor dem Hin-
tergrund des Freundschaftskults der Empfindsamkeit, eine bedeutende Rolle — soll
sie ruhig, ich werde die Philia an dieser Stelle übergehen, da sie nichts Goethespezi-
fisches ist. Ganz und gar nicht übergehen wollen wir hingegen Philine, die - im
Wortsinne ihres Namens — „Freundin“ (des Mannes!) schlechthin, so eine Art Holly
Golightly des Rokoko. Philine — „ganz allerliebst war sie aber, wenn sie ein Glas
Wein im Kopf hatte“ — ist eine der gelungensten und liebenswertesten Frauenfigu-
ren Goethes. Und sie ist es auch, die einen der bemerkenswertesten Sätze über die
Liebe sagt, aber den hebe ich mir bis zum Schluss auf. Es geht darin nicht um die
Liebe als reziprok-symmetrische Beziehung - wenn es sowas überhaupt gibt! — und
auch nicht um das Glück des Geliebtwerdens, sondern um das eigene Lieben. Wie
es Egmonts Klärchen singt und summt: „Glücklich allein | Ist die Seele, die liebt”. Das
wahrhafte Lebensglück besteht mithin für Goethe darin, zu lieben, in aktiver, lei-
denschaftlicher Zuwendung „mit Leib und Seele”, und das gilt für alle die Hori-
zonte des Lebens und Dimensionen des Liebens. Von Goethe lernen, heißt lieben
lernen.
In der sexuellen Monogamie sieht Goethe ein wesentliches Problem der inti-
men Beziehung: „Wen man täglich von früh bis Abend sieht, der kann uns nicht
mehr verfuhren.“ Daher sei es „einer eignen Betrachtung wert, dass die Gewohnheit
sich vollkommen an die Stelle der Liebesleidenschaft setzen kann, sie — die Gewohn-
heit — fordert nicht sowohl eine anmutige als eine bequeme Gegenwart, alsdann aber
ist sie unüberwindlich. Es gehört viel dazu, ein gewohntes Verhältnis aufzugeben, es
besteht gegen alles Widerwärtige; Missvergnügen, Unwillen, Zorn vermögen nichts
gegen dasselbe, ja es überdauert die Verachtung, den Hass.“ - Aber es geht auch
anders — wer länger mit Goethe zu tun hatte, weiß, dass bei ihm zu jeder Position,
zu jeder Aussage, kühnen These oder Stellungnahme auch irgendwo und irgendwann
das Gegenteil zu finden ist. Goethe, der Dialektiker - das passt zu seiner dynamischen
Weitsicht. — In seiner Stanzenballade ‘Das Tagebuch’ erzählt er von der Verführung
eines Reisenden durch „die Göttin Gelegenheit”: Wegen nächtlichen Radbruchs
nur einige Meilen von Heim und Weib zur Übernachtung in einem Gasthof
genötigt, trifft ein Handelsreisender dort, unter dem Personal, auf eine Schöne, die
er sogleich heiß begehrt — und die tatsächlich nach Arbeitsschluss in sein Zimmer
kommt. Doch ausgerechnet da versagt „der Meister Iste“ seinen Dienst und wird erst
wieder rege, als der Reisende an seine Frau daheim und ihre ersten sexuellen Begeg-
nungen denkt. Darüber wird ihm klar, wen und wie sehr er wirklich liebt, und er
zieht aus der Begebenheit folgende, fast schon moritatenhafte Lehre: „Wir stolpern
wohl auf unsrer Lebensreise, | Und doch vermögen in der Welt, der tollen, | Sehr viel
die Pflicht, unendlich mehr die Liebe!“ Auch hier sticht Paulus wieder Kant aus.
Nicht immer jedoch geht es bei Goethe so moralisch zu, zumindest, wenn es um die
sexuelle Treue seiner Romanfiguren geht. Eines aber hält er in einer Beziehung für
unverzichtbar: die schon erwähnte partnerschaftliche Solidarität und Fürsorglichkeit,
die das ist, was Goethe als ‘Treue bezeichnet. Das ist dann Allernächstenliebe.
Was fehlt noch? Die Antike unterscheidet von Eros und Agape noch eine drit-
te Form, die Philia, Freundesliebe. Selbstverständlich spielt auch die, vor dem Hin-
tergrund des Freundschaftskults der Empfindsamkeit, eine bedeutende Rolle — soll
sie ruhig, ich werde die Philia an dieser Stelle übergehen, da sie nichts Goethespezi-
fisches ist. Ganz und gar nicht übergehen wollen wir hingegen Philine, die - im
Wortsinne ihres Namens — „Freundin“ (des Mannes!) schlechthin, so eine Art Holly
Golightly des Rokoko. Philine — „ganz allerliebst war sie aber, wenn sie ein Glas
Wein im Kopf hatte“ — ist eine der gelungensten und liebenswertesten Frauenfigu-
ren Goethes. Und sie ist es auch, die einen der bemerkenswertesten Sätze über die
Liebe sagt, aber den hebe ich mir bis zum Schluss auf. Es geht darin nicht um die
Liebe als reziprok-symmetrische Beziehung - wenn es sowas überhaupt gibt! — und
auch nicht um das Glück des Geliebtwerdens, sondern um das eigene Lieben. Wie
es Egmonts Klärchen singt und summt: „Glücklich allein | Ist die Seele, die liebt”. Das
wahrhafte Lebensglück besteht mithin für Goethe darin, zu lieben, in aktiver, lei-
denschaftlicher Zuwendung „mit Leib und Seele”, und das gilt für alle die Hori-
zonte des Lebens und Dimensionen des Liebens. Von Goethe lernen, heißt lieben
lernen.