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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2014 — 2015

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2014
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II. Wissenschaftliche Vorträge
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Patzold, Steffen: Wie regierte Karl der Große? Zu den Kapitularien der Karolingerzeit: Sitzung der Philosophisch-historischen Klasse am 18. Juli 2014
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https://doi.org/10.11588/diglit.55654#0059
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Steffen Patzold

gangen wäre. Wir kennen ausschließlich Sammlungen von capitula auf Seiten der
Empfänger. Das aber sind gerade keine Einzelstücke auf losen Blättern, sondern
Abschriften in Codices, die jeweils mehrere Texte versammelten. Solche Samm-
lungen wurden dezentral und parallel an vielen Orten geschaffen: Es waren mehr
oder minder interessengeleitet angelegte Sammlungen, die ihrerseits wieder exzer-
piert, kopiert, kombiniert, redigiert, weiterverarbeitet und -verbreitet wurden.
Man muss daher sagen: Die Editoren des 19. Jahrhunderts haben Texte kre-
iert, die in dieser Form aus dem 8./9. Jahrhundert gar nicht überliefert sind. Tat-
sächlich sehen die capitula in den Manuskripten, die uns das Material tradieren,
häufig genug sehr anders aus. Die Editoren haben diese Abweichungen letztlich
auf die begrenzten Fähigkeiten mittelalterlicher Kopisten und Kompilatoren zu-
rückgeführt - ein Ungenügen, das typisch erscheinen konnte für die Zeit vor der
Professionalisierung der Rechtsgelehrsamkeit. Daher haben sie (gegen die gesamte
Überlieferung!) jeweils nur den „Urtext“, im Sinne des ursprünglich vom Herr-
scher ausgehenden Normtextes zu rekonstruieren versucht.
Jahrzehntelang haben Historiker diese Grundannahmen akzeptiert. Doch
könnte eine andere Deutung weiterführen, die die Instabilität und Varianz der
Überlieferung in den rap/Wtf-Sammlungen ernstnimmt: Statt „Kapitularien“ eng
als eigene Gattung von „Herrschererlassen“ zu definieren, sollten wir die zahl-
reichen capitula als Überreste dessen ansehen, was Timothy Reuter als „assembly
politics“ bezeichnet und Bernd Schneidmüller als „konsensuale Herrschaft“ be-
schrieben hat. Capitula sind wertvolle Überreste der Kommunikation der Eliten in
einer politischen Praxis, die in Versammlungen und Beratungen lebte - und damit
die Aufgabe löste, die Kommunikation zwischen dem Hof und den Magnaten in
den Weiten des Großreichs sicherzustellen.
Dass die Karolinger Reichsversammlungen abhielten, wussten Historiker
schon immer. Erst in jüngerer Zeit aber haben Mediävisten begonnen, die ho-
he Bedeutung von Versammlungen und Beratungen für die politische Praxis der
Karolingerzeit genauer zu erforschen: Die Herrscher und die Eliten trafen sich
Jahr für Jahr zu politischen Beratungen. Schon die lateinische Terminologie in
den Quellen deutet auf die Multifunktionalität dieser Versammlungen hin: Sie
konnten als synodus oder exercitus, als consilium oder placitum und noch anderes mehr
bezeichnet werden. Die Grenzen zwischen Synoden, Heeresversammlungen, Ge-
richtsversammlungen und anderen Treffen waren durchlässig; und in der Regel
erfüllte ein und dieselbe Versammlung mehrere solcher Funktionen zugleich.
Timothy Reuter hat darauf aufmerksam gemacht, dass die großen Versamm-
lungen von Magnaten diejenigen Momente waren, in denen im Frühmittelalter
temporär eine politische Öffentlichkeit hergestellt wurde. Hier wurden politi-
sche Ziele formuliert und konkrete Maßnahmen beraten, verabschiedet, kollektiv
verbindlich gemacht; hierher kamen die Magnaten aus den verschiedenen Regi-
onen des Großreichs; hier gewann der Hof Informationen über das Geschehen

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