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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2014 — 2015

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A. Das akademische Jahr 2014
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II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Patzold, Steffen: Wie regierte Karl der Große? Zu den Kapitularien der Karolingerzeit: Sitzung der Philosophisch-historischen Klasse am 18. Juli 2014
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55654#0060
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II. Wissenschaftliche Vorträge

im Reich - und von hier spiegelten die Magnaten kollektive Entscheidungen und
zentrale Informationen zurück in die Peripherie. Versammlungen waren also vieles
zugleich: Bühnen symbolischer Kommunikation, Orte politischer Öffentlichkeit,
Räume für kollektive Beratungen, Instrumente der Integration der regionalen Eli-
ten eines Großreichs.
Da wir besser begreifen, welche Rolle Versammlungen und Beratungen für
die politische Praxis spielten, wird die überkommene Vorstellung von „Kapitulari-
en“ als „Herrschererlassen“ zunehmend fragwürdig: Karl der Große regierte nicht
durch Erlasse; er regierte, indem er immer wieder neue Versammlungen und Be-
ratungen von Magnaten moderierte. Eben in dieser „assembly politics“ sollten wir
den Kontext der Tausenden von capitula sehen, die in weit mehr als 200 Codices
des 8. bis 11. Jahrhunderts überliefert sind.
Im Rahmen der „assembly politics“ gab es nun aber nicht nur den Herrscher,
der Erlasse promulgierte, und Magnaten, die sie akzeptierten. Capitula konnten
von unterschiedlichen Akteuren in verschiedenen Momenten niedergeschrieben
werden: Ein Magnat konnte beispielsweise Punkte notieren, die er bei Hof oder
mit dem Kaiser beraten wissen wollte (und sei es erst einmal als Gedankenstütze
für sich selbst). Er konnte Punkte notieren, die er unmittelbar auf einer größeren
Versammlung zur Sprache zu bringen gedachte. Der Kaiser konnte selbst seinen
Willen „intern“, etwa im Kreis seiner Notare, äußern - und Punkte definieren,
über die beraten werden sollte. Er konnte aber auch jene kleine Gruppe von Mag-
naten adressieren, die bei Hof vorab Themen setzten und Entscheidungen größe-
rer Versammlungen vorbereiteten; oder er konnte Punkte formulieren, die größere
Versammlungen diskutieren sollten. Manche capitula wurden als konkrete Bera-
tungsgrundlage für eine kleine oder eine große Versammlung bereits vorab aus-
formuliert. Andere könnten ihre Textgestalt durch individuelle Mitschriften von
Teilnehmern an einer Versammlung erhalten haben. Wieder andere Punkte waren
vom Hof an die sogenannten Königsboten als Vermittler zentraler Entscheidungen
in die Peripherien des Reiches adressiert; andere überliefern Informationen der
Königsboten an den Hof, die dann wieder in Beratungsprozesse bei Hof einfließen
konnten. Und manche Kapitellisten waren zweifellos auch Ergebnisse der kollek-
tiven Beschlussfassung, vom Hof selbst verschriftlicht und als Vorlage für die Ver-
breitung im Reich sorgfältig archiviert - also tatsächlich „Herrschererlasse“. Die
Zahl möglicher Kommunikationssituationen im Rahmen der „assembly politics“
ist mit diesen Beispielen (für die wir jeweils Beispiele erhalten haben) noch nicht
erschöpft. Je komplexer wir in dieser Hinsicht unser Modell machen, desto bes-
ser werden wir der Mannigfaltigkeit und formalen Vielfalt der erhaltenen capitula
gerecht werden.
Zusammengefasst: Wir sollten die Instabilität und hohe Varianz unserer
Überlieferung nicht als Produkt unfähiger Kopisten wegdefinieren, dann jeweils
einen Archetyp in Form eines „Herrschererlasses“ postulieren und diesen „Ur-

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