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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2014 — 2015

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2014
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Kemmerling, Andreas: Menschliches Glauben und unser Begriff von ihm: Sitzung der Philosophisch-historischen Klasse am 24. Oktober 2014
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https://doi.org/10.11588/diglit.55654#0065
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Andreas Kemmerling

richtig, ernsthaft und mit Bedacht sagen, dann glauben sie es auch“. Dies kann
nicht falsch sein. Es ist keine empirische Hypothese, die wir vorübergehend akzep-
tieren: im Blick auf eine künftige Präzisierung, in der dann nicht mehr Zuflucht
zu etwas so Verschwommenem wie „Normalität“ genommen wird. Vielmehr ist
es eine apriorische Wahrheit, der die hervorgehobene Einschränkung wesentlich
ist und die dank dessen empirischer Widerlegung entzogen ist. Darin unterschei-
det sie sich von echten volkspsychologischen Hypothesen. Diese sind trotz ihrer
Normalitätseinschränkung der Falsifizierung ausgesetzt. (Beispiel: „Für normale
Menschen gilt unter insgesamt normalen Gegebenheiten: Wenn sie etwas ver-
abscheuen, denken sie nicht gerne daran.“) Die These von der Theoretizität des
Glaubensbegriffs ist falsch. Die „Volkspsychologie“ ist völlig irrelevant dafür, was
Glauben seinem Begriffe nach ist.
Der hier einschlägige, unpräzisierbare Begriff des menschlich Normalen ist
zutiefst unwissenschaftlich und imprägniert all die andern, in deren implizite De-
finition er einfließt. Zwar läßt sich gelegentlich die Abwesenheit solcher Norma-
lität, aber prinzipiell niemals ihr Vorliegen feststellen. In keinem konkreten Fall
ließe sie sich je „nachweisen“. Sie lässt sich nur präsumieren. Allerdings ist diese
Präsumption keine Sache freien Beliebens; vielmehr ist sie, in Abwesenheit von
Gegenhinweisen, ein Gebot der Vernunft (übrigens oft auch eine soziale Pflicht).
Entscheidend ist, in Hinblick auf die Auseinandersetzung mit dem doxastischen
Nihilisten, bei alldem die simple Wahrheit: Wenn es überhaupt Menschen und
menschliche Gegebenheiten gibt, dann auch normale. - Nicht mehr bedarf es, um
einzusehen, dass der Begriff des Glaubens nicht leer ist, selbst wenn unsere volks-
psychologischen Hypothesen samt und sonders falsch wären.
Psychologische Grundbegriffe wie der des Glaubens erfassen Geistesphäno-
mene in einer „unverwissenschaftlichbaren“ Weise. Ihre Anwendbarkeit in einem
konkreten Fall setzt Präsumptionen voraus, deren Zutreffen sich im Einzelfall
nicht empirisch (geschweige denn wissenschaftlich) sichern lässt, deren generel-
le Wahrheit jedoch apriorisch einsichtig ist. Ihr Mangel an physikalistischer Re-
spektabilität ist kein Hinweis darauf, dass diese Begriffe leer sind, sondern zeigt
vornehmlich eines: dass der naturalistische Szientismus selbst ein philosophischer
Aberglaube ist. - Wenn meine Überlegungen richtig sind, lässt sich dies schon am
Beispiel des für unser Selbstverständnis unverzichtbaren Begriffs des Glaubens
entwickeln.

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