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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2014 — 2015

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A. Das akademische Jahr 2014
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Esch, Arnold: Große Geschichte und kleines Leben. Wie Menschen in historischen Quellen zu Wort kommen: Akademievorlesung
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55654#0112
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III. Veranstaltungen

Bretterboden (supra quandam tabulatam supra testudinem et infra tectum ipsius capelle)
einige Wachen und Diener der Fürstin untergebracht habe. Da oben gehe es zwar
sehr ehrbar zu, aber er wolle für diese Art der Unterbringung über der Kapelle
(also dort, wo dieser Frauenzimmerbau an den späteren Friedrichsbau stößt) doch
lieber die päpstliche Zustimmung einholen. Oder wir hören, wie aus vielen an-
deren Universitätsstädten, so auch in Heidelberg vom Konflikt zwischen Bürger-
schaft und Studentenschaft, zwischen town andgoum: ein Student schildert, wie er
mit zwei Kommilitonen, die er „auf dem Platz bei der Heiliggeistkirche getroffen
hatte“, nach dem Essen zurück in ihre studentische Burse wollte, bevor sie schlie-
ße; wie sie durch die Straßen rennen, einige Bürger mit Messern hinter ihnen her,
und wie es endlich zum Totschlag kommt - aus Notwehr, sagt der Gesuchsteller,
der als künftiger Priester nichts mit Blutvergießen zu tun gehabt haben durfte und
sich darum nun an Rom wendet. Oder, letztes Beispiel: da bittet Heidelberg um
Erleichterung der Fastenvorschriften (was für Einzelpersonen häufig, für ganze
Städte aber weniger oft vorkam). Die Gegend sei - so lautet die Formel nördlich
der Alpen - zu kalt, als dass man Oliven anbauen (d. h. über nichttierische Fet-
te verfügen) könnte, also bitte Butter auch an Fasttagen. Die genannten Gesuche
wurden gewährt - wie alle diese in die Register aufgenommenen Suppliken. Aber
von der Quelle zurück zur Fragestellung.
Was wir aus diesen Gesuchen an persönlichen Schicksalen erfahren, reicht
tiefer in den Menschen hinab als alles, was uns andere Quellen sagen könnten. Da
hören wir aus dem Munde schlichter, sonst sprachloser Menschen von traumati-
schen Erfahrungen in früher Jugend, von Vater/Sohn-Konflikten, von enttäuschter
Liebe, Zimmerschlachten, Depressionen; von Glaubenszweifeln und Konversi-
onen zum Islam, von Pfründenhandel und Studienfinanzierung, verunglückten
Krippenspielen und abgebrochenen Pilgerfahrten, von verbotenen Lieferungen in
die Häfen der muslimischen Afrikaküste, von Krieg und Pest. Und von schreckli-
chen Erlebnissen wie denen des deutschen Studenten, der auf dem Weg nach Rom,
bei Bologna, mit einem deutschen Landsmann in den Verdacht kam, Gefangenen
zur Flucht verhülfen zu haben, und zu dem die empörte Burgbesatzung nur sagte:
„Wir geben Dir die Wahl, aber schnell: entweder Du hängst Deinen Landsmann
auf, oder wir hängen Euch alle beide auf!“ Da bat er den anderen um Verzeihung
und hängte ihn auf - und bittet nun den Papst um Absolution.
All das erfahren wir von diesen Menschen selbst - manchmal sogar mehr,
als wir überhaupt wissen wollen. Wir wollen nicht wissen, wie einer einem ande-
ren im Kardinalspalast den Stuhl wegzog, oder welche Beleuchtung in römischen
Barbier-Läden üblich war (denn auch das erfahren wir). Sondern wir wollen wis-
sen, wie gleich oder wie anders Menschen einer Zeit in bestimmten Situationen
reagieren, empfinden, von ihrem Schicksal sprechen.
Ganz ungewöhnlich in einer mittelalterlichen Quelle - weil als besonders
sündhaft angesehen - ist das Bekennen von Selbstmordabsichten oder gar von

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