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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2014 — 2015

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2014
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Esch, Arnold: Große Geschichte und kleines Leben. Wie Menschen in historischen Quellen zu Wort kommen: Akademievorlesung
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55654#0111
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Akademievorlesung von Arnold Esch

hören wollen. Und weil wir uns solche Einblicke nicht entgehen lassen sollten.
Denn das wäre, wie wenn man in Pompeji nur die offiziellen Inschriften auf Mar-
mor lesen und die Graffiti an den Wänden nicht beachten würde (das hat glückli-
cheiweise schon das alte Corpus Inscriptionum Latinarum anders gesehen).
Inzwischen hat sich in Rom eine weitere unermessliche Quelle aufgetan, die
zu unserer Fragestellung eine ungeahnte Fülle von Paradigmen beiträgt. Es sind
die aus aller Welt an den Papst gerichteten Gesuche um Absolution oder Dispens
bei Verstößen gegen das Kirchenrecht, die nicht vom Ortsbischof gelöst werden
konnten, sondern dem Papst vorbehalten waren. Diese Fälle wurden von der Apo-
stolischen Pönitentiarie, dem (noch heute) obersten Buß- und Gnadenamt der
Römischen Kirche, bearbeitet und registriert: allein für das 15. Jahrhundert sind
das um die 100.000 Fälle, von denen ich ungefähr ein Drittel gelesen habe. Sie
waren der Forschung lange Zeit strikt verschlossen, solange Kanonisten meinten,
einige Stücke könnten dem Beichtgeheimnis unterliegen. Doch ist die Pönitentia-
rie von dieser Auffassung abgekommen. Einige Fälle - etwa die deutschen oder die
englischen - sind inzwischen bearbeitet, die spanischen französischen italienischen
Fälle sind noch weitgehend unbekannt, und aus denen will ich hier schöpfen.
Damit die Behörde sich ein Bild machen und den Grad der Schuld beurteilen
konnte, verlangte sie vom Gesuchsteller, den Fall und seine Umstände erst ein-
mal ausführlich zu erzählen - und auf diese narratio, diese „Erzählung“ kommt es
uns an. Denn da hören wir Tausende gewöhnlicher Menschen, die sonst nie eine
Chance gehabt hätten, in eine historische Quelle zu geraten und dort auch noch
zu Worte zu kommen, aus ihrem bescheidenen Leben erzählen. Manche dieser
Episoden lesen sich geradezu wie Boccaccio-Novellen - wüssten wir nicht, wie
elend es diesen Menschen dabei zumute war. Sie reden von ihrer Schuld und rings
um ihre Schuld herum. Man könnte fast sagen: Schuld ist für viele Menschen
die einzige Überlieferungs-Chance. Wer keine Probleme hat und keine Probleme
macht, hat keine Chance, in eine Quelle hineinzukommen. Am besten, man hat
ein Problem mit Rom, denn dann kommt man in römische Überlieferung, und
da ist man viel besser aufgehoben als in mittelalterlicher deutscher Überlieferung.
Ein Problem mit Rom zu haben war damals nicht schwer, denn die Kirche durch-
drang in ganz anderer Weise das Leben, das der Geistlichen wie das der Laien. Wie
Sie hier sehen werden.
Um am vertrauten Beispiel der eigenen Stadt kurz die Bandbreite dieser ei-
gentümlichen Quelle vorzuführen, möchte ich eingangs, auch wenn die Fälle un-
sere Fragestellung nicht unmittelbar betreffen, hier beiläufig Beispiele einfügen,
die in Heidelberg spielen. Da wird uns ein bestimmter Baukomplex droben auf
dem Heidelberger Schloss beschrieben, weil der Kurfürst, Philipp der Aufrichtige
(1476-1508), sich ein Gewissen daraus macht, dass er dort, wo das Gemach seiner
Frau - der sogenannte „Frauenzimmerbau“ (habitatio secreta Frauwenzymmer vulga-
riter nuncupata) - an das Dach der Schlosskapelle stoße, im Dachstuhl über einem

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