19. Gesamtedition der Werke von Karl Jaspers
Aus der Medizin brachte Jaspers nicht nur eine ungewöhnliche analytische
Kompetenz und die Stilsicherheit diagnostisch präziser Beschreibungen mit - sei-
ne Allgemeine Psychopathologie gilt heute noch als Standardwerk-, sondern vor allem
ein in der Praxis erprobtes Verständnis von Wissenschaft. Als einer der wenigen,
vielleicht der einzige Denker seiner Zeit kannte Jaspers Leistung und Grenzen
empirischer Wissenschaft aus eigener Anschauung. Auf sie stützt sich sein Plädo-
yer für die Unverzichtbarkeit der Metaphysik und die Überzeugung, dass Philo-
sophie, statt wissenschaftsanalog von Tatsachen zu handeln, der kommunikativen
Selbstverständigung menschlicher Existenz dient. Ihr Medium war für Jaspers, im
Gegensatz zu Heidegger, die Geschichte der Metaphysik, die er in Gestalt einer
Lehre von den Chiffren der Transzendenz aufnimmt und durch zentrale Motive
der biblischen Religion erweitert: Existenz ist nie ohne Transzendenz, Transzen-
denz kommt in Chiffren zur Sprache. Dabei bleibt die Spannung, der Widerspruch
zwischen den Chiffren erhalten. Sie stehen im Kampf. Keine einzelne Chiffre,
kein isolierter Glaubenssatz erschöpft insofern „die“ Wahrheit. Gerade in ihrer
Ausschließlichkeit aber verkörpert jede Chiffre den Anspruch auf eine allgemein
verbindliche und allgemein verständliche Sinndeutung der conditio humana: Unter
dem Titel eines philosophischen Glaubens an die Universalität der Kommunika-
tion setzt Jaspers so die Tradition der abendländischen Metaphysik und Theologie
Vorlesu ng in der Alten Aula, 1945/46
211
Aus der Medizin brachte Jaspers nicht nur eine ungewöhnliche analytische
Kompetenz und die Stilsicherheit diagnostisch präziser Beschreibungen mit - sei-
ne Allgemeine Psychopathologie gilt heute noch als Standardwerk-, sondern vor allem
ein in der Praxis erprobtes Verständnis von Wissenschaft. Als einer der wenigen,
vielleicht der einzige Denker seiner Zeit kannte Jaspers Leistung und Grenzen
empirischer Wissenschaft aus eigener Anschauung. Auf sie stützt sich sein Plädo-
yer für die Unverzichtbarkeit der Metaphysik und die Überzeugung, dass Philo-
sophie, statt wissenschaftsanalog von Tatsachen zu handeln, der kommunikativen
Selbstverständigung menschlicher Existenz dient. Ihr Medium war für Jaspers, im
Gegensatz zu Heidegger, die Geschichte der Metaphysik, die er in Gestalt einer
Lehre von den Chiffren der Transzendenz aufnimmt und durch zentrale Motive
der biblischen Religion erweitert: Existenz ist nie ohne Transzendenz, Transzen-
denz kommt in Chiffren zur Sprache. Dabei bleibt die Spannung, der Widerspruch
zwischen den Chiffren erhalten. Sie stehen im Kampf. Keine einzelne Chiffre,
kein isolierter Glaubenssatz erschöpft insofern „die“ Wahrheit. Gerade in ihrer
Ausschließlichkeit aber verkörpert jede Chiffre den Anspruch auf eine allgemein
verbindliche und allgemein verständliche Sinndeutung der conditio humana: Unter
dem Titel eines philosophischen Glaubens an die Universalität der Kommunika-
tion setzt Jaspers so die Tradition der abendländischen Metaphysik und Theologie
Vorlesu ng in der Alten Aula, 1945/46
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