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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2014 — 2015

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C. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
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II. Das WIN-Kolleg
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Sechster Forschungsschwerpunkt „Messen und Verstehen der Welt durch die Wissenschaft“
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11. Die Vermessung der Welt: Religiöse Deutung und empirische Quantifizierung im mittelalterlichen Europa
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https://doi.org/10.11588/diglit.55654#0278
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C. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses

piert und rezipiert, stellte Wilhelm von Rubruk angesichts der von ihm beobach-
teten Lage des Kaspischen Meeres schlicht fest, Isidors Angaben seien falsch. In
antiker Tradition hatte Isidor das Kaspische Meer als Ausbuchtung des die Erde
umgebenen Ozeans beschrieben; Wilhelm hingegen erkannte, dass es sich um ein
Binnenmeer handelte.
Der Blick der lateinischen Christenheit weitete sich durch zunehmende Aus-
tauschprozesse auf bisher nur theoretisch erfasste Weltgegenden: Bei der Beschrei-
bung ferner Regionen standen sich nun biblisches und antikes Traditionswissen
und eigene, empirische Erfahrungen gegenüber. Diese galt es gegeneinander ab-
zuwägen, wobei die Augenzeugenschaft zunehmend zum Garanten der Glaub-
würdigkeit wurde. Der Franziskaner Odorich von Portenau etwa betonte in dem
Bericht seiner mehr als 12 Jahre dauernden Asienreise gleich mehrfach, man wür-
de all die erstaunlichen Dinge wohl nicht glauben, wenn man sie nicht selbst ge-
sehen habe. Skepsis gegenüber Autoritäten und Vertrauen in Empirie waren auch
die Leitmotive des venezianischen Kartographen Fra Mauro, der 1459 in den In-
schriften seiner im Durchmesser zwei Meter großen Weltkarte diesen Zwiespalt
offen thematisierte. Zur Frage, ob Afrika umschiffbar sei schrieb er, portugiesische
Seefahrer hätten ihm dies bestätigt: „Wenn aber einer diesen Männern widerspre-
chen wollte, die es mit ihren eigenen Augen gesehen haben, dann gäbe es noch
mehr Grund denen zu misstrauen, die Schriften zu Dingen hinterließen, die sie
nicht mit eigenen Augen gesehen haben, sondern von denen sie bloß glaubten so
zu sein.“ Dass es in Afrika monsterhafte Wesen gebe, wollte Fra Mauro mangels
Beweisen nicht glauben. Auch mit der traditionellen Darstellung Jerusalems als
Mittelpunkt der Erde (nach Ez 5,5) hatte er einige Probleme: Asien war auf sei-
nem Werk gegenüber älteren Karten gewachsen und nahm nun mehr als die dem
Erdteil traditionell zugestandene Hälfte der Erdoberfläche ein. Jerusalem rutschte
somit aus der Mittelachse. Um die biblisch begründete und religiös geforderte
Zentralität der Stadt noch zu retten, bemühte Fra Mauro ein Hilfsargument: Jeru-
salem sei das Zentrum, wenn man nicht den geographischen Raum, sondern die
Bevölkerungszahl zugrunde lege. Er rekurrierte damit auf verschiedene Reisebe-
richte, die bei der Durchquerung weiter Steppen festgehalten hatten, dass Europa
zwar kleiner als Asien, dafür aber dichter bevölkert sei. Indem er das Kriterium der
Bemessung änderte, gelang dem Kartographen - gerade so, möchte man sagen -
die Zusammenführung von Tradition und Empirie.
Im Rahmen meines Projekts soll untersucht werden, welche Rolle dem
Messen und Zählen als Beschreibungsmethode und auch als Erklärungsmodell
bei der Erfassung der Welt zukam. Warum schienen quantifizierende Messun-
gen oder Vergleiche vielen Autoren seit dem 13. Jahrhundert besonders geeignet,
um verschiedenste Sachverhalte auszudrücken oder zu beschreiben? In Zahlen
ausdrückbare Angaben oder Messergebnisse stellen zunächst einmal die Ver-
gleichbarkeit mehrerer Vergleichsgegenstände anhand ausgewählter Attribute

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