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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2014 — 2015

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C. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
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II. Das WIN-Kolleg
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Sechster Forschungsschwerpunkt „Messen und Verstehen der Welt durch die Wissenschaft“
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11. Die Vermessung der Welt: Religiöse Deutung und empirische Quantifizierung im mittelalterlichen Europa
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https://doi.org/10.11588/diglit.55654#0277
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11. Die Vermessung der Welt (WIN-Programm)

die Größe von Sonne und Mond. Wenn die Sonne aber 6644mal größer als der
Mond war, müsse der Papst demnach ebenso viel bedeutsamer als jede weltliche
Gewalt sein. Das biblische Gleichnis war wissenschaftlich objektiviert und damit
scheinbar unangreifbar geworden.
Im Mittelpunkt des Forschungsprojekts steht die Frage, wie lateinisch-christli-
che Autoren des Mittelalters zwischen traditionellen, religiösen Deutungsmustern
und individuellen, empirischen Erfahrungen die Welt erfassten und beschrieben.
Die vermeintlich präzise Berechnung Heinrichs von Segusio kann hier als sympto-
matisches Beispiel für einen Mentalitätswandel in der mittelalterlichen Geistesge-
schichte dienen: der aufkommende Wunsch nach einem objektiven und empirisch
belegbarem Verständnis der Welt.
Für diesen Mentalitätswandel kommt dem 13. Jahrhundert eine Schlüsselrol-
le zu. Die Scholastik, die ihre Beweisführung auf das theoretische Reflektieren und
Abwägen der Argumente verschiedener Autortäten aufbaute, um diese im besten
Fall in einer Synthese zu vereinen, erreichte ihre Blüte. In großen handbuchar-
tigen Werken („Summen“) fasste man spezifische Themenbereiche systematisch
zusammen. Noch ambitionierter waren die großen enzyklopädischen Projekte
etwa des Franziskaners Bartholomäus Anglicus oder des Dominikaners Vinzenz
von Beauvais, die im 13. Jahrhundert das Wissen der Welt systematisierten und
rationalisierten.
Gleichzeitig wurde der scholastische Ansatz aber auch kritisch in Frage ge-
stellt: Roger Bacon etwa betonte gegenüber dem Rekurs auf traditionelle Autori-
täten die Bedeutung der Empirie: Wissen, so der englische Franziskaner, gewinne
man durch eigenes Beobachten und Erfahren (scientia experimentalis). Von griechi-
schen und arabischen Gelehrten inspiriert bezog sich Bacon zwar vor allem auf
Wissensgebiete wie Mathematik, Astronomie und Optik, übertrug seinen Ansatz
aber faktisch auch auf die Beschreibung der Welt: Die Berichte Reisender sollten
seiner Meinung nach theoretische Abhandlungen über Geographie und Kosmo-
graphie ergänzen.
Tatsächlich war das 13. Jahrhundert auch durch eine ganz praktisch angeleg-
te Vermessung der Welt geprägt. Die Expansion der Mongolen bis in das heuti-
ge Polen und Ungarn hatte das Christentum tief verunsichert: Man konnte das
militärisch überlegene Reitervolk weder im eigenen Weltbild verorten noch ihr
Auftreten erklären. Mit den Franziskanern Johannes von Plano Carpini und Wil-
helm von Rubruk wurden daher Mitte des Jahrhunderts zwei Erkundungsgrup-
pen in den Osten gesandt, um Wissen über das fremde Völk zu sammeln und ihre
Absichten zu klären - der Beginn der europäischen „Erfahrungswissenschaft“
(J. Fried). Die von den Mönchen verfassten Reiseberichte boten ethnographische
und geographische Informationen aus erster Hand, die über das tradierte Wissen
hinausgingen - und es teils sogar falsifizierten: Wurde etwa das enzyklopädische
Werk Isidors von Sevilla aus dem 7. Jahrhundert jahrhundertelang getreulich ko-

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