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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2014 — 2015

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D. Antrittsreden, Nachrufe, Organe, Mitglieder
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II. Nachrufe
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Schluchter, Wolfgang: M. Rainer Lepsius (8. 5.1928 – 2.10.2014)
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https://doi.org/10.11588/diglit.55654#0354
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D. Antrittsreden, Nachrufe, Organe, Mitglieder

auch kein europäisches Parteiensystem, keine europäische Tarifautonomie, keinen
europäischen Sozialstaat, ja nicht einmal eine europäische Öffentlichkeit oder,
jenseits der Grundrechte, eine gemeinsame europäische Kultur. Die Unionsbür-
gerschaft ist abgeleitet, gründet in der Staatsbürgerschaft des Nationalstaats. Bis
zuletzt stritt er für ein vorsichtiges Weitergehen, war zwar für mehr Europa, aber
gegen die Finalisierung des europäischen Einigungsprozesses. Er insistierte auf der
doppelten Legitimation der EU durch Parlament und Ministerrat und wandte sich
gegen die Auffassung von der Kommission als einer parlamentarischen Regierung.
Europa sei gezwungen, die Kleinen zu schonen, ohne die Großen zu entmündigen.
Eine europäische parlamentarische Regierung bleibe für immer eine Illusion.
Im Jahre 1975 ließ sich Rainer Lepsius auf ein Projekt ein, das er eigentlich
nicht wollte, es aber aus Gefälligkeit gegenüber Johannes Winckelmann und Edu-
ard Baumgarten nicht ablehnte: auf die Max Weber-Gesamtausgabe. Die Gefäl-
ligkeit gegenüber den beiden Genannten hatte verschiedene Gründe, was hier
dahingestellt bleiben kann. Gewiss, Max Weber war für ihn immer mehr zu einem
wichtigen Bezugspunkt für seine eigene Arbeit geworden. Aber ihn zu edieren,
sich auf die Prinzipien einer historisch-kritischen Edition einzulassen, entsprach
weder seinen wissenschaftlichen Interessen noch seinem Temperament. Daraus
wurde nun eine nahezu 40-jährige Beschäftigung, insbesondere mit Max Webers
Briefen. Sie machte ihn wohl zum besten Kenner von Max Webers Leben. Leider
schrieb er seine Kenntnisse nur in den Einleitungen zu den Briefbänden, nicht
aber zusammenhängend nieder, was angesichts der Qualität der derzeit boomen-
den Biographieindustrie sehr zu beklagen ist. Als geschäftsführender Herausgeber
hielt er bis zuletzt die Fäden der Edition in den Händen. Er hoffte, das Ende der
Edition noch zu erleben. Das ist ihm nun nicht mehr vergönnt. Doch sein Name
wird für immer mit diesem Jahrhundertprojekt verbunden bleiben.
Für Rainer Lepsius war Soziologie Profession, zur Einhaltung strikter the-
oretischer und methodischer Standards verpflichtet, sie war ihm aber darüber
hinaus auch ein Medium der Aufklärung. Er zitierte gerne Rene König, den er
sehr verehrte, mit der Formel, die Soziologie diene der Selbstdomestikation des
Menschen. Er selbst sprach von der kognitiven Hygiene gegen die Täuschung
des Menschen über sich selbst. Nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus,
freilich nicht darauf beschränkt, misstraute er der Selbststeuerungs- und Wi-
derstandsfähigkeit des Einzelnen gegenüber kollektiven Mächten. Er setzte auf
Institutionen, die das menschliche Handeln in Bahnen halten. Nur ein gut konst-
ruiertes Institutionengefüge vermag uns vor uns selbst zu schützen. Davon war er
überzeugt. Seine Stimme ist nun verstummt, und sie wird uns fehlen. Seien wir
dankbar, dass es sie gab.
Wolfgang Schlachter

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