Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2016 — 2017

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2016
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Niehrs, Christof: Zur Herkunft der embryonalen Körperachsen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55652#0044
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
II. Wissenschaftliche Vorträge

Etienne Geoffroy Saint-Hilaire, das Nachsehen gegen George Cuvier. Molekulare
Befunde der modernen Entwicklungsbiologie werfen nun jedoch ein ganz neues
Licht auf die vergessenen Theorien der Naturalisten des 19. Jahrhunderts und die
Frage nach der Herkunft der embryonalen Körperachsen.
Der Mensch gehört zur großen Klade der bilateral symmetrisch gebauten Tie-
re (Bilateria), bei denen die Körperhälften entlang einer Längsachse spiegelbild-
lich zu einander aufgebaut sind. Diese Längsachse verläuft von Kopf bis Fuß und
wird auch als anterior-posteriore (a-p) Achse bezeichnet. Senkrecht dazu verläuft
die dorso-ventrale (d-v) Achse oder Tiefenachse. Diese beiden Körperachsen sind
fundamentale Merkmale der Bilateria, der fast alle tierischen Organismen ange-
hören, außer beispielsweise Nesseltiere (Cnidaria). Zu den einfach aufgebauten,
vielzelligen Cnidaria zählen Polypen, Seeanemonen, Quallenarten und Koral-
len. Während sich diese durch den Besitz einer einzigen, oralen-aboralen Köpe-
rachse auszeichnen, weisen Plattentiere (Trichoplax adhaerens) und der Stamm der
Schwämme hingegen gar keine Körperachsen auf.
Phylogenetisch gesehen kann das Merkmal einer bilateralen Körpersymmetrie
durch Fossilfunde bis auf 550 Mio. Jahre zurückdatiert werden. Der ontogeneti-
sche, embryonale Ursprung der Körperachsen liegt jedoch in einem Regulations-
mechanismus begründet, der heute mit modernsten Methoden zugänglich und
verständlich gemacht werden kann.
Zu Beginn besitzen Eizellen bilateraler Organismen i. d. R. eine Radiärsym-
metrie und erst nach der Befruchtung bildet sich im sich entwickelnden Embryo
eine Symmetrieachse aus. Während der Gastrulation formen sich die drei Keim-
blätter und es entstehen die endgültigen Körperachsen. Diese räumliche Zellor-
ganisation vielzelliger Lebewesen wird von Morphogenen gesteuert. Morphogene
sind Signalmoleküle, die von Zellen freigesetzt werden, anschließend durch das
Gewebe diffundieren und an Oberflächenrezeptoren von anderen Zellen bin-
den. Die dadurch ausgelösten zellulären Signalkaskaden führen zur Aktivierung
oder Repression von Genen, welche Entwicklungsprozesse wie z. B. die Zelldif-
ferenzierung steuern. Die Entscheidung über Genaktivierung oder Deaktivierung
geschieht mittels Morphogengradienten. Unterschiedliche Schwellenwerte regu-
lieren die Expression verschiedener Gene und damit eine konzentrationsspezifi-
sche Antwort der Entwicklung. Gradienten von Morphogenen kodieren somit ein
kartesisches Koordinatensystem und vermitteln Zellen Positionsinformationen,
welche letztlich für die Bildung der Körperachsen verantwortlich sind.
Als Schlüsselregulatoren für die Bildung der a-p und d-v Achsen bei Wirbel-
tieren wurden jeweils die beiden Morphogene Wnt und BMP (Bone Morphogenic
Protein) identifiziert. Es konnte beispielweise gezeigt werden, dass Gradienten die-
ser beiden Wachstumsfaktoren die Entstehung der Körperachsen in Froschemb-
ryonen regulieren (Kiecker und Niehrs, 2001). Eine Störung der normalen Wnt/
BMP-Gradienten resultiert etwa in der Ausbildung embryonaler Doppelachsen.

44
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften