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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2016 — 2017

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A. Das akademische Jahr 2016
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II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Leonhard, Jörn: Der Erste Weltkrieg: Zur Tektonik von Erwartung und Erfahrung
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https://doi.org/10.11588/diglit.55652#0060
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II. Wissenschaftliche Vorträge

Ägypten und Indien verbundenen Hoffnungen wurden in Paris bitter enttäuscht.
Während der Krieg die alten Erwartungen durch Erfahrungsüberschüsse entwerte-
te, provozierte er zugleich neue Erwartungsüberschüsse. Weil die Erfüllung dieser
Erwartungen durch die Nachkriegsordnung verhindert wurde - in China, Ägyp-
ten oder Indien - oder in den Augen der Zeitgenossen nur unvollständig gelang
- etwa in Italien - produzierte der Krieg weit über die unmittelbaren Sieger und
Verlierer hinaus eine unabsehbare Kette von Enttäuschungen. Auch vor diesem
Hintergrund verschärfte sich die Diskussion um den Bestand und die Zukunfts-
fähigkeit von politischen und sozialen Ordnungsmodellen nach 1918. Das galt für
den Liberalismus und den Parlamentarismus genauso wie für den Kapitalismus
und Kolonialismus.
Noch etwas anderes unterschied die Verhandlungen in Paris von früheren
Friedenskonferenzen der neueren Geschichte wie in Münster und Osnabrück vor
1648 und in Wien 1814/15. Am 28. Juni 1919 kam es im Spiegelsaal des Schlosses
von Versailles zu einer Szene, die exemplarisch für die emotionale Aufladung der
Unterzeichnung des Friedensvertrages und die Belastung der Friedensordnung
durch moralische Implikationen von Schuld und Verantwortung stand. Bevor
man die deutsche Delegation in den Saal führte, wurden fünf in ihren Gesichtern
schwer verletzte französische Soldaten in der Nähe des Tisches platziert, an dem
die deutschen Politiker ohne jede Aussprache die Dokumente zu unterzeichnen
hatten. Der französische Ministerpräsident Clemenceau unterstrich diese Geste
noch, indem er den cinqgueules casses stumm die Hände schüttelte. Auf Hundert-
tausenden von Bildpostkarten sollten die fünf Soldaten nach dem Friedensschluss
zum Symbol der französischen Opfer werden - ja sie gaben durch ihre entstellten
Gesichter dem Krieg geradezu ein eigenes Gesicht und unterstrichen dadurch die
Wahrnehmung der deutschen Schuld am Krieg. Hier wurde die moralische Erwar-
tung gleichsam ikonographisch, dass dem totalisierten Krieg ein absoluter Friede
folgen müsse, der die zahllosen Opfer rechtfertigen müsse. Hier wurde erkennbar,
warum die Friedensmacher von 1919 mit globalen Erwartungen überfordert wa-
ren, die sie in ihrer Heterogenität nicht erfüllen konnten.
Henri Barbusse, der Autor des schonungslosen Kriegsbuches „Le feu“, beton-
te 1918: „Menschheit statt Nation. 1789 riefen die Revolutionäre: „Alle Franzosen
sind gleich.“ Wir sagen: „Alle Menschen!“ Die Gleichheit erfordert gemeinsame
Regeln für alle Menschen der Erde.“ Dieser Satz, diese Hoffnung, der Weltkrieg
sei mit seinen entsetzlichen Opfern nicht umsonst gewesen, weil er eine neue Wel-
tinnenordnung geschaffen habe, hat im Prinzip seinen normativen Anspruch bis
heute nicht verloren. Aber niemand wird behaupten, die Menschheit sei bei aller
Verdichtung zum wirklichen Handlungssubjekt geworden - auch die Desillusio-
nierung der globalen Hoffnungen auf „a war to end all wars“ sollte eine Grunder-
fahrung des 20. Jahrhunderts werden. Die Neudefinition der Außenpolitik in eine
„Weltinnenpolitik“ ist ein Indiz dafür, dass sich die Probleme verlagert haben, nicht

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