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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2016 — 2017

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A. Das akademische Jahr 2016
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II. Wissenschaftliche Vorträge
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Leonhard, Jörn: Der Erste Weltkrieg: Zur Tektonik von Erwartung und Erfahrung
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https://doi.org/10.11588/diglit.55652#0059
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Jörn Leonhard

Jörn Leonhard
„Der Erste Weltkrieg:
Zur Tektonik von Erwartung und Erfahrung"
Gesamtsitzung vom 23. Juli 2016
Stärker als in jedem Krieg zuvor und danach traten im Ersten Weltkrieg Erwartun-
gen und Erfahrungen auseinander. Walter Benjamin schrieb 1933 im Rückblick:
„Nein, soviel ist klar: die Erfahrung ist im Kurse gefallen und das in einer Gene-
ration, die 1914-1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen in der Weltgeschichte
gemacht hat... Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden, als
die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflati-
on, die körperlichen durch den Hunger, die sittlichen durch die Machthaber. Eine
Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter
freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als
die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explo-
sionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.“
Was war die Konsequenz dieser radikalen Entwertung von Erfahrungen durch
eine Gewaltexplosion in kurzer Frist seit dem Sommer 1914? Bis in die Frühe
Neuzeit waren nach Reinhart Koselleck Erwartungshorizonte und Erfahrungsräu-
me in einem zyklischen Zeitverständnis aufeinander bezogen geblieben. Zwischen
1770 und 1850 war diese Zeitvorstellung auseinandergebrochen, weil die Erwar-
tungen der Menschen im Zeitalter der Französischen Revolution weit über ihre
Erfahrungen hinausschossen. Das, was im August 1914 begann und im November
1918 nicht endete, kehrte diese Tektonik radikal um: Nun entlarvte der Krieg die
Fortschrittserwartungen, jenes Erbe des 19. Jahrhunderts, als harmlose Szenari-
en, die der Dynamik der Erfahrungen in diesem Krieg nicht mehr standhielten.
Das Ergebnis war eine Glaubwürdigkeitskrise in nahezu allen Lebensbereichen:
eine Krise der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, der ideologischen Entwürfe
zur Rechtfertigung von Staaten und Reichen, von Nationen, Ethnien und Klassen.
Zugleich entstanden durch die Dynamik des Krieges, die Erfahrung unbekann-
ter Opferdimensionen und Erschöpfungsgesellschaften neue globale Erwartungs-
überschüsse. Dieser beschleunigte Umbruch von alten zu neuen Erwartungen
markierte eine elementare Verunsicherung, die seit 1917 in die Erfahrung verkürz-
ter Geltungsfristen und Halbwertzeiten großer Ordnungsideen mündete. Sie er-
klärte aber auch die suggestive Wirkung der neuen Utopienkonkurrenz, die Lenin
und die Bolschewiki und zumal den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson
zu globalen Symbolen für einen neuen Ordnungsrahmen werden ließ.
Darin lag auch die Grundproblematik der Pariser Friedensverträge und der
mit ihnen verbundenen Versuche einer globalen Neuordnung. Denn die mit Wil-
son seit 1917 und seiner globalen Medienwirkung in Südamerika, in Asien, in

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