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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2017 — 2018

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A. Das akademische Jahr 2017
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II. Wissenschaftliche Vorträge
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Gesamtsitzung am 22. Juni 2017 zu Ehren von Peter Graf Kielmansegg anlässlich seines 80. Geburtstages
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Stein, Tine: Menschenrechte und die Grenzen des demokratischen Verfassungsstaats
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https://doi.org/10.11588/diglit.55651#0074
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II. Wissenschaftliche Vorträge

des Menschen (nicht des Bürgers) unantastbar ist und dass das deutsche Volk sich
„darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundla-
ge jeder menschlichen Gemeinschaft des Friedens und der Gerechtigkeit der Welt“
bekennt - dies fordert eine innere Haltung ein. Die Verfassung, die ihren Geltungs-
anspruch aus dem Willen des demokratischen Souveräns erhält, weist damit gleich
im ersten Artikel über die Exklusivität und Partikularität der politischen Gemein-
schaft hinaus.
Im Grundgesetz kommt also sehr deutlich eine normative Selbstbindung an
die Menschenrechte zum Tragen, die sich nicht im juridischen Sinn erschöpft,
sondern die auch einen moralischen Anspruch transportiert, der sich auf das zwi-
schenmenschliche Verhältnis richtet. Tatsächlich haben ja im vergangenen und
vorvergangenen Jahr zahlreiche Bürger in Ansehung der konkreten Hilfsbedürf-
tigkeit der Flüchtlinge diesem Anspruch Folge geleistet und Initiativen ergriffen,
für die üblicheiweise in der modernen Welt staatliche Institutionen zuständig sind.
Dieser positive Ausnahmezustand einer Aufnahme und Versorgung von hundert-
tausenden Flüchtlingen, die durch offene Grenzen in unkontrollierter Weise in das
Land gekommen sind, konnte nur von zeitlich begrenzter Dauer sein. Herfried
und Marina Münkler haben die hier eigentlich relevante Belastungsgrenze nicht
an physischen Kapazitäten festgemacht, sondern Sozialvertrauen als soziomora-
lische Voraussetzung im Sinne einer gesellschaftspolitischen Identität herausge-
stellt - eine Ressource freilich, die, wie sie auch selbst betonen, elastisch ist und in
die auch investiert werden kann.26 Das führt dann mitten in eine innenpolitische
Debatte, wie denn diejenigen, die sich durch Fremde in ihrer Heimatidentität be-
droht fühlen, politisch ernst genommen werden können, ohne einerseits Frem-
denfeindlichkeit nachzugeben und andererseits die Redeweise des Ernstnehmens
nicht nur zur Floskel verkommen zu lassen. Die jüngste Kontroverse in Bayern, ob
den Hinzugekommenen eine Achtung der Leitkultur abzuverlangen sei oder ob es
nicht stattdessen um ein Bekenntnis zu Verfassungspatriotismus gehen muss, das
dann aber auch von den Altbürgern einzufordern sei, kann als eine solche Identi-
tätsdebatte verstanden werden.
Verfassungspatriotismus bietet nun aber gerade keinen Ausweg in eine kos-
mopolitische und grenzübeiwindende Weltgesellschaft an. Vielmehr kann mit
diesem Konzept verstanden werden, dass es gerade auf die Komplementarität von

26 Vgl. Münkler/Münkler, S. 72. Auf das Spannungsverhältnis zwischen Aufnahmekapazität
und ethischer Verpflichtung und dass hieraus keine starren Größen erwachsen, hat auch
Bundespräsident Joachim Gauck auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsdebatte hingewiesen:
„Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten, sie sind endlich. (...) Unser Asyl- und
Flüchtlingsrecht bemisst sich nicht nach Zahlen, und doch wissen wir unsere Aufnahme-
kapazität ist begrenzt, auch wenn wir nicht genau wissen, wo die Grenzen liegen.“ (http://
www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/09/150927-
Interkulturelle-Woche-Mainz.html).

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