Verleihung des Karl-Jaspers-Preises 2017 an Jan und Aleida Assmann
Kultur ist Gedächtnis und bildet Formen der Überlieferung in schriftlosen ebenso
wie in Schriftkulturen aus, auch wenn die Einführung der Schrift in das kulturelle
Gedächtnis zweifellos eine kategoriale Wende bedeutet. Die Frage der Zeit, der
Wenden, Epochenschwellen, Durchbrüche, um die es in den kulturphilosophi-
schen Debatten der 50er Jahre ging, blieb uns immer präsent und steht auch im
Zentrum unserer letzten Bücher, Aleidas Ist die Zeit aus den Fugen? mit der These
vom Untergang des Zeitregimes der Moderne in den 1980er Jahren und meines
Exodus. Die Revolution der Alten Welt mit der Wende vom Poly- zum Monotheismus
im 6. Jh. v. Chr.
Als wir 1985 eingeladen wurden, an einer der Konferenzen teilzunehmen,
die der israelische Soziologe Schmuel Noach Eisenstadt zum Thema „Achsenzeit“
veranstaltete, trat nun auch Karl Jaspers wieder ins Blickfeld unserer Forschungen,
wobei sich bei mir nun, 30 Jahre nach meiner ersten Begegnung, die Mischung aus
Faszination und Irritation mit ganz anderen Argumenten und sehr viel konkreter
und substanzieller wieder einstellte. Heute, wiederum 30 Jahre später, weiß ich
ziemlich genau, was mich an dieser Theorie irritiert und was mich an ihr fasziniert.
Um mit der Irritation zu beginnen: heute hat sich Jaspers’ Begriff der Achsenzeit
als ein Epochenbegriff durchgesetzt. Man spricht von ihr wie von der „Bronze-
zeit“, „Eisenzeit“, „Jungsteinzeit“. Das scheint mir verfehlt. Ich verstehe Jaspers’
Achsenzeittheorie lieber als eine Heuristik, eine Art kulturanalytischer Sonde, mit
der man sich historischen Kulturen nähern und beobachten kann, ob und nach
welchen Richtungen sie ausschlägt. Dann allerdings kommt man zu faszinieren-
den Ergebnissen.
Die zugrundeliegende Beobachtung, dass in der Zeit um 500 v. Chr. die drei
großen Kulturkreise der damaligen Welt, China, Indien und Vorderasien/Mittel-
meerwelt unabhängig voneinander einen geistigen Durchbruch in ähnlicher Rich-
tung erlebten, stammt von Anquetil Duperron aus dem Jahre 1771. Jaspers hat sie
von Alfred Weber übernommen, der sie in seinen Büchern Kultursoziologie (1935)
und Das Tragische und die Geschichte (1942) behandelte. Jaspers großes Verdienst ist
es, für diesen Durchbruch einen differenzierten Katalog von Kriterien ausgear-
beitet zu haben, die gewissermaßen als Fühler unserer Sonde fungieren können.
Denken wir uns diese Fühler mit Lämpchen verbunden, die aufleuchten bei posi-
tiven Befunden in einem Befragungsprozess!
Einige dieser Kriterien sind sehr allgemein und daher wenig spezifisch.
(1) Dazu gehören, was man „Seins-und Selbstbewusstsein“ nennen kann,
auch sonst Jaspers’ großes Thema; Jaspers charakterisiert diesen Schritt „dass der
Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewusst
wird.“ Das müsste man schon genauer eingrenzen, damit die Sonde nicht bei
allen großen Mythen anspringt. Man kann aber die Fühler weiter oder schär-
fer einstellen. Bei schärferer Einstellung entspricht Jaspers’ Seins-und-Selbstbe-
wusstsein - und das ist, was er zweifellos meint - der Signatur der Philosophie:
117
Kultur ist Gedächtnis und bildet Formen der Überlieferung in schriftlosen ebenso
wie in Schriftkulturen aus, auch wenn die Einführung der Schrift in das kulturelle
Gedächtnis zweifellos eine kategoriale Wende bedeutet. Die Frage der Zeit, der
Wenden, Epochenschwellen, Durchbrüche, um die es in den kulturphilosophi-
schen Debatten der 50er Jahre ging, blieb uns immer präsent und steht auch im
Zentrum unserer letzten Bücher, Aleidas Ist die Zeit aus den Fugen? mit der These
vom Untergang des Zeitregimes der Moderne in den 1980er Jahren und meines
Exodus. Die Revolution der Alten Welt mit der Wende vom Poly- zum Monotheismus
im 6. Jh. v. Chr.
Als wir 1985 eingeladen wurden, an einer der Konferenzen teilzunehmen,
die der israelische Soziologe Schmuel Noach Eisenstadt zum Thema „Achsenzeit“
veranstaltete, trat nun auch Karl Jaspers wieder ins Blickfeld unserer Forschungen,
wobei sich bei mir nun, 30 Jahre nach meiner ersten Begegnung, die Mischung aus
Faszination und Irritation mit ganz anderen Argumenten und sehr viel konkreter
und substanzieller wieder einstellte. Heute, wiederum 30 Jahre später, weiß ich
ziemlich genau, was mich an dieser Theorie irritiert und was mich an ihr fasziniert.
Um mit der Irritation zu beginnen: heute hat sich Jaspers’ Begriff der Achsenzeit
als ein Epochenbegriff durchgesetzt. Man spricht von ihr wie von der „Bronze-
zeit“, „Eisenzeit“, „Jungsteinzeit“. Das scheint mir verfehlt. Ich verstehe Jaspers’
Achsenzeittheorie lieber als eine Heuristik, eine Art kulturanalytischer Sonde, mit
der man sich historischen Kulturen nähern und beobachten kann, ob und nach
welchen Richtungen sie ausschlägt. Dann allerdings kommt man zu faszinieren-
den Ergebnissen.
Die zugrundeliegende Beobachtung, dass in der Zeit um 500 v. Chr. die drei
großen Kulturkreise der damaligen Welt, China, Indien und Vorderasien/Mittel-
meerwelt unabhängig voneinander einen geistigen Durchbruch in ähnlicher Rich-
tung erlebten, stammt von Anquetil Duperron aus dem Jahre 1771. Jaspers hat sie
von Alfred Weber übernommen, der sie in seinen Büchern Kultursoziologie (1935)
und Das Tragische und die Geschichte (1942) behandelte. Jaspers großes Verdienst ist
es, für diesen Durchbruch einen differenzierten Katalog von Kriterien ausgear-
beitet zu haben, die gewissermaßen als Fühler unserer Sonde fungieren können.
Denken wir uns diese Fühler mit Lämpchen verbunden, die aufleuchten bei posi-
tiven Befunden in einem Befragungsprozess!
Einige dieser Kriterien sind sehr allgemein und daher wenig spezifisch.
(1) Dazu gehören, was man „Seins-und Selbstbewusstsein“ nennen kann,
auch sonst Jaspers’ großes Thema; Jaspers charakterisiert diesen Schritt „dass der
Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewusst
wird.“ Das müsste man schon genauer eingrenzen, damit die Sonde nicht bei
allen großen Mythen anspringt. Man kann aber die Fühler weiter oder schär-
fer einstellen. Bei schärferer Einstellung entspricht Jaspers’ Seins-und-Selbstbe-
wusstsein - und das ist, was er zweifellos meint - der Signatur der Philosophie:
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