Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2018 — 2019

DOI Kapitel:
B. Die Mitglieder
DOI Kapitel:
I. Antrittsreden
DOI Artikel:
Schahadat, Schamma: Antrittsrede vom 21. Juli 2018
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55650#0158
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
B. Die Mitglieder

gramms ist er aus Damaskus nach Deutschland gegangen, um Medizin zu studie-
ren. In Berlin haben sie sich dann getroffen, der syrische Medizinstudent und die
ostpreußische Krankenschwester, und 1961 wurde ich geboren.
Das erscheint in unseren heutigen globalisierten Zeiten nicht weiter bemer-
kenswert, im Jahre 2017 waren 22,54 % der Bevölkerung in Deutschland Men-
schen mit Migrationshintergrund. In den 1960er Jahren aber war das anders; bis
zum Abitur war ich durchgängig die einzige Schülerin in meiner Jahrgangsstufe
mit einem ausländischen Namen und mit der Religionszugehörigkeit „Islam“ und
auch die einzige, die nicht am Religionsunterricht teilgenommen hat. Und es war
eine Zeit, als man noch nicht darüber diskutiert hat, ob der Islam zu Deutschland
gehört oder nicht.
Warum erzähle ich Ihnen das alles? Vielleicht, weil Flucht, Migration und
Transkulturalität heute so aktuelle Themen sind, vielleicht, weil mich bis heute
Themen interessieren, in denen es (auch) um transkulturelle Zirkulationen geht.
Keineswegs möchte ich aber den Anschein erwecken, ich hätte mich aus einem
schwierigen kulturellen Umfeld in die deutsche Wissenschaft gekämpft, schließ-
lich war mein Vater kein Gastarbeiter aus Anatolien, sondern er war ein Arzt, der
aus Syrien kam und in Deutschland studiert hat, und meine Mutter war Deutsche.
Und so hatte und habe ich einen ganz gewöhnlichen Lebenslauf: Ich habe Abitur
gemacht und studiert, Englisch, Russisch und zunächst auch Geschichte. Nicht
Arabistik und nicht Islamwissenschaft, was immer wieder Erstaunen hervorgeru-
fen hat: Wieso denn Russisch und nicht Arabisch? Aber das würde ja bedeuten, dass
jeder Deutsche Germanistik studieren muss - und das ist nun keineswegs so.
Meine Liebesgeschichte (auf Russisch: roman) mit der Slavistik begann zu Be-
ginn der 1980er Jahre an einem Dienstagmorgen, 8.30 bis 10 Uhr, in einem wenig
romantischen Raum im Philosophikum der Universität zu Köln. Es war sehr voll,
voller als die meisten slavistischen Veranstaltungen heute sind. Etwa 50 Studieren-
de saßen auf engem Raum, denn nicht alle fanden an den Tischen Platz und hatten
sich Stühle aus den Nachbarräumen geholt. Das Seminar hieß „Einführung in die
Dramenanalyse“, die Dozentin war Angela Martini.
Rückblickend würde ich dieses Seminar als eine Art rite de passage bezeichnen,
denn in den anderthalb Stunden an jedem Dienstagmorgen befand ich mich jen-
seits von Zeit und Raum, und jede Woche ging ich anders (geläutert? erleuchtet?)
daraus hervor. Arnold van Gennep spricht in seinem Buch über die rites de passage
von neutralen Ubergangszonen, in denen die Novizen sich aufhalten:
„Jeder, der sich von der einen Sphäre in die andere begibt, befindet sich eine Zeitlang sowohl
räumlich als auch magisch-religiös in einer besonderen Situation: er schwebt zwischen zwei
Welten“.7

7 Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage). Aus dem Französischen von Klaus
Schomburg und Sylvia Schomburg-Scherff. Frankfurt a. M./New York 2005, S. 27. (3. Aufl.)

158
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften