Antrittsrede von Schamma Schahadat
von Seiten immer wieder von der Vorgeschichte seines Lebens ablenken lässt. Also
bin ich auch hier nicht auf der richtigen Spur.
Nun ja, vielleicht werde ich in der russischen oder der polnischen Literatur
fündig, denn schließlich sind diese Literaturen mein eigentliches „Geschäft“, wie
man so schön im Schwäbischen sagt, wo ich ja nun heimisch geworden bin. Ich
versuche es bei Lev Tolstoj, der eine dreibändige Autobiographie mit dem Titel
Kindheit, Knabenalter, Jünglingsalter geschrieben hat:
„Am 12. August 18.., gerade drei Tage nach meinem zehnten Geburtstag, an dem ich so
wundervolle Geschenke erhalten hatte, weckte Karl Iwanowitsch mich um sieben Uhr mor-
gens dadurch auf, daß er gerade über meinem Kopf mit einer Fliegenklappe aus einem Stück
Packpapier an einem Stock nach einer Fliege schlug.“3
Wieder nichts. Vielleicht Vladimir Nabokovs Autobiographie Speak, Memory. An
Autobiography Revisited von 1966?
„The cradle rocks above an abyss, and common sense teils us that our existence is but a brief
crack of light between two eternities of darkness. Although the two are identical twins, man, as a
rule, views theprenatal abyss with more calm than the one he is headingfor (at someforty-five
hundred heartbeats an hour).“4
War Augustinus’ Anfang zu theologisch, so ist dieser zu philosophisch. Ein letzter
Versuch: Das Tagebuch des polnischen Schriftstellers Witold Gombrowicz:
„Poniedzalek. Ja. Wtorek.Ja. Sroda. Ja. Czwartek. Ja.“5
„Montag, Ich. Dienstag. Ich. Mittwoch. Ich. Donnerstag. Ich.“6
Das geht: Ich rede also über mich, an diesem Samstag, dem 21. Juli 2018: Ich heiße
Schamma Schahadat, ich bin Professorin für Slavische Literatur- und Kulturwis-
senschaften an der Eberhard Karls Universität Tübingen und seit kurzem bin ich
Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Wie kam es dazu?
Vielleicht beginne ich, wie jede literarische Autobiographie es tut, mit meiner
Vorgeschichte: Meine Mutter ist 1945, siebenjährig, mit ihrer Familie aus Ost-
preußen in die Nähe von Magdeburg geflohen, dann, 1957, ist sie ganz alleine aus
der damaligen DDR in den Westen gegangen, wieder eine Flucht. Mein Vater hat
ebenfalls 1957 seine Heimat verlassen, im Rahmen eines Entwicklungshilfepro-
3 Leo N. Tolstoj, Kindheit Knabenalter, Jiinglingsjahre, dt. von Hermann Röhl, revidiert von Gisela
Drohla , Frankfurt a. M.: Inselverlag 1983, S. 7.
4 Vladimir Nabokov, Speak, Memory. An Autobiography Revisited. New York: G. P Putnam’s Sons
1966. S. 19.
5 Witold Gombrowicz, Dziennik (1953 — 1965). In: Ders., Dziela Zebrane. Paris: Institut lit-
teraire, S.A.R.L. 2007. S. 11.
6 Witold Gombrowicz, Tagebuch 1953 — 1969, dt. von Olaf Kühn. In: Witold Gombrowicz. Ge-
sammelte Werke, hg. von Rolf Fieguth, Fritz Arnold. München, Wien: Carls Hanser Verlag 1988.
S. 9
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von Seiten immer wieder von der Vorgeschichte seines Lebens ablenken lässt. Also
bin ich auch hier nicht auf der richtigen Spur.
Nun ja, vielleicht werde ich in der russischen oder der polnischen Literatur
fündig, denn schließlich sind diese Literaturen mein eigentliches „Geschäft“, wie
man so schön im Schwäbischen sagt, wo ich ja nun heimisch geworden bin. Ich
versuche es bei Lev Tolstoj, der eine dreibändige Autobiographie mit dem Titel
Kindheit, Knabenalter, Jünglingsalter geschrieben hat:
„Am 12. August 18.., gerade drei Tage nach meinem zehnten Geburtstag, an dem ich so
wundervolle Geschenke erhalten hatte, weckte Karl Iwanowitsch mich um sieben Uhr mor-
gens dadurch auf, daß er gerade über meinem Kopf mit einer Fliegenklappe aus einem Stück
Packpapier an einem Stock nach einer Fliege schlug.“3
Wieder nichts. Vielleicht Vladimir Nabokovs Autobiographie Speak, Memory. An
Autobiography Revisited von 1966?
„The cradle rocks above an abyss, and common sense teils us that our existence is but a brief
crack of light between two eternities of darkness. Although the two are identical twins, man, as a
rule, views theprenatal abyss with more calm than the one he is headingfor (at someforty-five
hundred heartbeats an hour).“4
War Augustinus’ Anfang zu theologisch, so ist dieser zu philosophisch. Ein letzter
Versuch: Das Tagebuch des polnischen Schriftstellers Witold Gombrowicz:
„Poniedzalek. Ja. Wtorek.Ja. Sroda. Ja. Czwartek. Ja.“5
„Montag, Ich. Dienstag. Ich. Mittwoch. Ich. Donnerstag. Ich.“6
Das geht: Ich rede also über mich, an diesem Samstag, dem 21. Juli 2018: Ich heiße
Schamma Schahadat, ich bin Professorin für Slavische Literatur- und Kulturwis-
senschaften an der Eberhard Karls Universität Tübingen und seit kurzem bin ich
Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Wie kam es dazu?
Vielleicht beginne ich, wie jede literarische Autobiographie es tut, mit meiner
Vorgeschichte: Meine Mutter ist 1945, siebenjährig, mit ihrer Familie aus Ost-
preußen in die Nähe von Magdeburg geflohen, dann, 1957, ist sie ganz alleine aus
der damaligen DDR in den Westen gegangen, wieder eine Flucht. Mein Vater hat
ebenfalls 1957 seine Heimat verlassen, im Rahmen eines Entwicklungshilfepro-
3 Leo N. Tolstoj, Kindheit Knabenalter, Jiinglingsjahre, dt. von Hermann Röhl, revidiert von Gisela
Drohla , Frankfurt a. M.: Inselverlag 1983, S. 7.
4 Vladimir Nabokov, Speak, Memory. An Autobiography Revisited. New York: G. P Putnam’s Sons
1966. S. 19.
5 Witold Gombrowicz, Dziennik (1953 — 1965). In: Ders., Dziela Zebrane. Paris: Institut lit-
teraire, S.A.R.L. 2007. S. 11.
6 Witold Gombrowicz, Tagebuch 1953 — 1969, dt. von Olaf Kühn. In: Witold Gombrowicz. Ge-
sammelte Werke, hg. von Rolf Fieguth, Fritz Arnold. München, Wien: Carls Hanser Verlag 1988.
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