B. Die Mitglieder
Schamma Schahadat
Antrittsrede vom 21. Juli 2018
Lieber Herr Holstein, liebe Sekretäre, liebe
Mitglieder,
ich habe in meinem Leben schon viele Vor-
träge gehalten, aber noch nie habe ich einen
Vortrag über mich selbst gehalten. Wie fange
ich an? Was soll ich erzählen? Zwanzig Mi-
nuten über mich selbst reden?
Um Hilfe zu finden, wende ich mich
Texten zu, die mir nahestehen. Eines meiner
Forschungsgebiete sind Ego-Dokumente, also
Texte, in denen die Autorinnen und Autoren
über sich selbst schreiben: Autobiographien,
Tagebücher, Briefe, Bekenntnisse. Das scheint
mir die richtige Gattung zu sein. Ich gehe zu-
nächst ganz weit zurück, ins 4. nachchristliche Jahrhundert, zu Augustinus:
„Groß bist du, o Herr, und hoch zu preisen; groß ist deine Kraft, und unermeßlich deine
Weisheit. Und preisen will dich ein Mensch, der doch nur ein Stücklein ist deiner Kreatur, ein
Mensch, der einhergeht unter dem Zeugnis seiner Sünde, daß du dem Hochmütigen wider-
stehst. Und doch, preisen will dich ein Mensch, dies Stücklein deiner Kreatur.“1
Das ist nicht wirklich der richtige Anfang für meinen Anlass. Dann vielleicht
Rousseau?
„Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das niemand nachahmen wird. Ich
will meinesgleichen einen Menschen in der ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch
werde ich sein. “2
Auch dieser Anfang erscheint mir nicht passend, denn natürlich will ich mich
nicht in meiner „ganzen Naturwahrheit“ zeigen, sondern mich der Heidelberger
Akademie der Wissenschaften vorstellen, und mein Anspruch ist viel bescheidener
als der von Rousseau, der ein „Unternehmen“ angeht, das „beispiellos dasteht“.
Laurence Sternes The Life and Opinion ofTristram Shandy von 1760 ist ein groß-
artiges Muster für eine Lebensgeschichte, aber bekanntermaßen schafft Tristram
Shandy es kaum, bis zu seiner Geburt vorzudringen, weil er sich über hunderte
1 Aurelius Augustinus. Bekenntnisse. I. Buch, I. Kapitel, dt. von Wilhelm Thimme. Düsseldorf:
Artemis & Winkler Verlag 2007. S. 7.
2 Jean-Jacques Rousseau, Bekenntnisse, Erster Teil, Kapitel 1, dt. von Alfred Semerau. Düssel-
dorf, Zürich: Artemis & Winkler Verlags 1996. S. 7.
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Schamma Schahadat
Antrittsrede vom 21. Juli 2018
Lieber Herr Holstein, liebe Sekretäre, liebe
Mitglieder,
ich habe in meinem Leben schon viele Vor-
träge gehalten, aber noch nie habe ich einen
Vortrag über mich selbst gehalten. Wie fange
ich an? Was soll ich erzählen? Zwanzig Mi-
nuten über mich selbst reden?
Um Hilfe zu finden, wende ich mich
Texten zu, die mir nahestehen. Eines meiner
Forschungsgebiete sind Ego-Dokumente, also
Texte, in denen die Autorinnen und Autoren
über sich selbst schreiben: Autobiographien,
Tagebücher, Briefe, Bekenntnisse. Das scheint
mir die richtige Gattung zu sein. Ich gehe zu-
nächst ganz weit zurück, ins 4. nachchristliche Jahrhundert, zu Augustinus:
„Groß bist du, o Herr, und hoch zu preisen; groß ist deine Kraft, und unermeßlich deine
Weisheit. Und preisen will dich ein Mensch, der doch nur ein Stücklein ist deiner Kreatur, ein
Mensch, der einhergeht unter dem Zeugnis seiner Sünde, daß du dem Hochmütigen wider-
stehst. Und doch, preisen will dich ein Mensch, dies Stücklein deiner Kreatur.“1
Das ist nicht wirklich der richtige Anfang für meinen Anlass. Dann vielleicht
Rousseau?
„Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das niemand nachahmen wird. Ich
will meinesgleichen einen Menschen in der ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch
werde ich sein. “2
Auch dieser Anfang erscheint mir nicht passend, denn natürlich will ich mich
nicht in meiner „ganzen Naturwahrheit“ zeigen, sondern mich der Heidelberger
Akademie der Wissenschaften vorstellen, und mein Anspruch ist viel bescheidener
als der von Rousseau, der ein „Unternehmen“ angeht, das „beispiellos dasteht“.
Laurence Sternes The Life and Opinion ofTristram Shandy von 1760 ist ein groß-
artiges Muster für eine Lebensgeschichte, aber bekanntermaßen schafft Tristram
Shandy es kaum, bis zu seiner Geburt vorzudringen, weil er sich über hunderte
1 Aurelius Augustinus. Bekenntnisse. I. Buch, I. Kapitel, dt. von Wilhelm Thimme. Düsseldorf:
Artemis & Winkler Verlag 2007. S. 7.
2 Jean-Jacques Rousseau, Bekenntnisse, Erster Teil, Kapitel 1, dt. von Alfred Semerau. Düssel-
dorf, Zürich: Artemis & Winkler Verlags 1996. S. 7.
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