III. Veranstaltungen
„Zufall in der Geschichte - Geschichte des Zufalls"
Akademievorlesung von Prof. Dr. Hartmut Böhme am 12. November 2018
Aus der modernen Welt, aber auch aus der Natur ist der Zufall nicht mehr weg-
zudenken, ebenso wenig wie das Risiko und das Scheitern. Sie gehören zu den
Ordnungen, in denen wir uns einzurichten haben und die niemals mehr von
einer gesicherten Notwendigkeit sein werden. Doch zum Zufall gehört als sein
Komplement die Regel, zum Risiko die Sicherheit, zum Scheitern das Gelingen.
In dieser Ambiguität, in diesem Pendelschlag zwischen den Polen schwingt das
empfindliche Leben, das sich bis heute, immerhin, als erstaunlich robust erwie-
sen hat.
Im folgenden werden einige wenige Linien der Geschichte des Zufalls skiz-
ziert (die Forschung ist immens), die zeigen sollen, dass dieser Begriff - und
seine Entsprechungen in anderen Sprachen - ebenso eine der großen Beunruhi-
gungen und Ungewissheiten der Geschichte wie auch die Ermöglichungsbedin-
gung von Freiheit und Selbstbestimmung darstellt. Die Deutungslinien reichen
von der Antike bis zur heutigen Soziologie, von der Religion über die Philoso-
phie und Literatur bis zur Naturwissenschaft und zur postmodernen Lebenspra-
xis. Die überwältigende Vielfalt dessen, was als Zufall widerfährt und/oder als
Chance genutzt werden kann, reflektiert das Inkommensurable dieses Phäno-
mens. Das Chaotische des Zufalls in begriffliche Ordnungen einzufangen, ist ei-
ne der großen Kulturleistungen. Wir beginnen mit einem skulpturalen Beispiel,
der berühmten Plastik Agathe Tyche, die Goethe entwarf. Es folgen Stufen der
Entwicklung und Transformation von Tyche und Fortuna seit der antiken Re-
ligion und Philosophie. Die neuzeitlichen Entwürfe von Risiko, Scheitern und
Erfolg zeigen schon die Richtung an, die der Zufall in der funktional ausdiffe-
renzierten Moderne nehmen wird. Heute sind die Verflechtungen, die nicht nur
individuell, gesellschaftlich, staatlich und epistemisch im paradoxalen Verhältnis
von Risikoerfordernissen und Sicherheitsbedürfnissen angelegt sind, zu einem
Kernproblem von Gesellschaften geworden, die auf Kontingenz umgeschaltet
sind.
Goethes Skulptur „Agathe Tyche“
Alles entsteht und vergeht nach Gesetz; doch über des Menschen/Leben, dem
köstlichen Schatz, herrschet ein schwankendes Los.
(Goethe: Euphrosyne, 1797/98, MA VI. 1, 12)21
21 Zitiert nach Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. v. Karl Richter u. a.
München 1985 ff. [Münchner Ausgabe = MA],
106
„Zufall in der Geschichte - Geschichte des Zufalls"
Akademievorlesung von Prof. Dr. Hartmut Böhme am 12. November 2018
Aus der modernen Welt, aber auch aus der Natur ist der Zufall nicht mehr weg-
zudenken, ebenso wenig wie das Risiko und das Scheitern. Sie gehören zu den
Ordnungen, in denen wir uns einzurichten haben und die niemals mehr von
einer gesicherten Notwendigkeit sein werden. Doch zum Zufall gehört als sein
Komplement die Regel, zum Risiko die Sicherheit, zum Scheitern das Gelingen.
In dieser Ambiguität, in diesem Pendelschlag zwischen den Polen schwingt das
empfindliche Leben, das sich bis heute, immerhin, als erstaunlich robust erwie-
sen hat.
Im folgenden werden einige wenige Linien der Geschichte des Zufalls skiz-
ziert (die Forschung ist immens), die zeigen sollen, dass dieser Begriff - und
seine Entsprechungen in anderen Sprachen - ebenso eine der großen Beunruhi-
gungen und Ungewissheiten der Geschichte wie auch die Ermöglichungsbedin-
gung von Freiheit und Selbstbestimmung darstellt. Die Deutungslinien reichen
von der Antike bis zur heutigen Soziologie, von der Religion über die Philoso-
phie und Literatur bis zur Naturwissenschaft und zur postmodernen Lebenspra-
xis. Die überwältigende Vielfalt dessen, was als Zufall widerfährt und/oder als
Chance genutzt werden kann, reflektiert das Inkommensurable dieses Phäno-
mens. Das Chaotische des Zufalls in begriffliche Ordnungen einzufangen, ist ei-
ne der großen Kulturleistungen. Wir beginnen mit einem skulpturalen Beispiel,
der berühmten Plastik Agathe Tyche, die Goethe entwarf. Es folgen Stufen der
Entwicklung und Transformation von Tyche und Fortuna seit der antiken Re-
ligion und Philosophie. Die neuzeitlichen Entwürfe von Risiko, Scheitern und
Erfolg zeigen schon die Richtung an, die der Zufall in der funktional ausdiffe-
renzierten Moderne nehmen wird. Heute sind die Verflechtungen, die nicht nur
individuell, gesellschaftlich, staatlich und epistemisch im paradoxalen Verhältnis
von Risikoerfordernissen und Sicherheitsbedürfnissen angelegt sind, zu einem
Kernproblem von Gesellschaften geworden, die auf Kontingenz umgeschaltet
sind.
Goethes Skulptur „Agathe Tyche“
Alles entsteht und vergeht nach Gesetz; doch über des Menschen/Leben, dem
köstlichen Schatz, herrschet ein schwankendes Los.
(Goethe: Euphrosyne, 1797/98, MA VI. 1, 12)21
21 Zitiert nach Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hg. v. Karl Richter u. a.
München 1985 ff. [Münchner Ausgabe = MA],
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