I. Jahresfeier am 18. Mai 2019
III. Wahrheit im Plural 1: Mehrdeutigkeit
Zwei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht Jaspers unter dem Titel
Von der Wahrheit seine Fundamentalphilosophie oder Metaphysik. In ihr schlägt
sein existentiell relevantes Denken auf das traditionelle Verständnis der Philo-
sophie durch. Denn im Gegensatz zur verbreiteten Verkürzung des Grundbe-
griffs, der Wahrheit, auf die Erkenntnis, auf epistemischc Wahrheit, wird sie von
Jaspers im Plural erörtert. Damit weitet er Aristoteles’ Einsicht, philosophische
Grundbegriffe seien pollachös legomena, Wörter mit mehreren Bedeutungen, auf
die Wahrheit aus.
Nach Jaspers tritt das, was er ursprüngliches Sein oder Weisen des Umgrei-
fenden nennt, in sieben zunehmend gewichtigeren Gestalten zutage. (Für die
ausführliche Darstellung siehe Von der Wahrheit, Bd. 1, 1947; eine weit knappere
Darstellung findet sich im dritten Vortrag der Einführung in die Philosophie. Zwölf
Radiovorträge 1950,231983.) Die in systematischer Hinsicht aufsteigende Stufenfol-
ge beläuft sich auf eine Art von Phänomenologie des Geistes, in Jaspers‘ Begriffen
freilich auf eine Phänomenologie der Vernunft.
Wer von außen kommt und die Wahrheit wie üblich ausschließlich im episte-
mischen Sinn versteht, könnte Jaspers’ Pluralisierung der Wahrheit für eine Idio-
synkrasie halten. Diese Befürchtung lässt sich entkräften, wenn man mit einigen
von Jaspers unabhängigen Beobachtungen beginnt.
Generell könnte man den Grund für die Mehrdeutigkeit philosophischer
Grundbegriffe in einer Unklarheit oder Ungenauigkeit des Denkens vermuten.
Verantwortlich ist jedoch die Mehrdeutigkeit der jeweiligen Phänomene. Im Fall
der Wahrheit zeigt sie sich schon in der Vielzahl umgangssprachlicher und wissen-
schaftlicher Verwendungen der Ausdrücke „Wahrheit“ und „wahr“. Obwohl Phi-
losophen den Bereich des Erkennens vorzuziehen pflegen, empfiehlt sich, einmal
anders anzusetzen:
Erstens ist die Wahrheit ein ethisch-praktischer Begriff, ein Grundbegriff der
lebensweltlichen Orientierung, bei der man Personen oder eine bestimmte Le-
bensform wahr nennt. Wer wie Dämon in Schillers Ballade Die Bürgschaft für den
Freund das Leben zu opfern bereit ist, erweist sich als Freund in einem vollen und
vollendeten, nicht mehr überbietbaren Sinn: Er ist ein „wahrer Freund“.
Bei einem zweiten epistemischen Begriff, bei der Wahrheit als einem Leitbe-
griff des Wissens und dessen methodischer Perfektionierung, der Wissenschaft,
gelten Sachverhalte als wahr, sofern die entsprechende Wirklichkeit sich „so, genau
so und nicht anders“ verhält. Drittens ist die Wahrheit als epistemologischer Begriff
ein Schlüsselbegriff der Theorie von Wissen und Wissenschaft. Viertens gibt es die
Wahrheit im ontischen Sinn: Etwas, ein Seiendes (griechisch: on), ist das, was es
sein kann, aber auch sein soll, im vollen Sinn, ohne jede Einschränkung. Nach
einem Sonderfall, dem ethischen Begriff, gilt eine Person oder Lebensweise als
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III. Wahrheit im Plural 1: Mehrdeutigkeit
Zwei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht Jaspers unter dem Titel
Von der Wahrheit seine Fundamentalphilosophie oder Metaphysik. In ihr schlägt
sein existentiell relevantes Denken auf das traditionelle Verständnis der Philo-
sophie durch. Denn im Gegensatz zur verbreiteten Verkürzung des Grundbe-
griffs, der Wahrheit, auf die Erkenntnis, auf epistemischc Wahrheit, wird sie von
Jaspers im Plural erörtert. Damit weitet er Aristoteles’ Einsicht, philosophische
Grundbegriffe seien pollachös legomena, Wörter mit mehreren Bedeutungen, auf
die Wahrheit aus.
Nach Jaspers tritt das, was er ursprüngliches Sein oder Weisen des Umgrei-
fenden nennt, in sieben zunehmend gewichtigeren Gestalten zutage. (Für die
ausführliche Darstellung siehe Von der Wahrheit, Bd. 1, 1947; eine weit knappere
Darstellung findet sich im dritten Vortrag der Einführung in die Philosophie. Zwölf
Radiovorträge 1950,231983.) Die in systematischer Hinsicht aufsteigende Stufenfol-
ge beläuft sich auf eine Art von Phänomenologie des Geistes, in Jaspers‘ Begriffen
freilich auf eine Phänomenologie der Vernunft.
Wer von außen kommt und die Wahrheit wie üblich ausschließlich im episte-
mischen Sinn versteht, könnte Jaspers’ Pluralisierung der Wahrheit für eine Idio-
synkrasie halten. Diese Befürchtung lässt sich entkräften, wenn man mit einigen
von Jaspers unabhängigen Beobachtungen beginnt.
Generell könnte man den Grund für die Mehrdeutigkeit philosophischer
Grundbegriffe in einer Unklarheit oder Ungenauigkeit des Denkens vermuten.
Verantwortlich ist jedoch die Mehrdeutigkeit der jeweiligen Phänomene. Im Fall
der Wahrheit zeigt sie sich schon in der Vielzahl umgangssprachlicher und wissen-
schaftlicher Verwendungen der Ausdrücke „Wahrheit“ und „wahr“. Obwohl Phi-
losophen den Bereich des Erkennens vorzuziehen pflegen, empfiehlt sich, einmal
anders anzusetzen:
Erstens ist die Wahrheit ein ethisch-praktischer Begriff, ein Grundbegriff der
lebensweltlichen Orientierung, bei der man Personen oder eine bestimmte Le-
bensform wahr nennt. Wer wie Dämon in Schillers Ballade Die Bürgschaft für den
Freund das Leben zu opfern bereit ist, erweist sich als Freund in einem vollen und
vollendeten, nicht mehr überbietbaren Sinn: Er ist ein „wahrer Freund“.
Bei einem zweiten epistemischen Begriff, bei der Wahrheit als einem Leitbe-
griff des Wissens und dessen methodischer Perfektionierung, der Wissenschaft,
gelten Sachverhalte als wahr, sofern die entsprechende Wirklichkeit sich „so, genau
so und nicht anders“ verhält. Drittens ist die Wahrheit als epistemologischer Begriff
ein Schlüsselbegriff der Theorie von Wissen und Wissenschaft. Viertens gibt es die
Wahrheit im ontischen Sinn: Etwas, ein Seiendes (griechisch: on), ist das, was es
sein kann, aber auch sein soll, im vollen Sinn, ohne jede Einschränkung. Nach
einem Sonderfall, dem ethischen Begriff, gilt eine Person oder Lebensweise als
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