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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2020
DOI Kapitel:
I. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Gertz, Jan Christian: Ham und die Hamiten. Anmerkungen zu einer kulturgeschichtlich bedeutsamen ethno-geographischen Klassifizierung in der biblischen Urgeschichte: Sitzung der Philosophisch-historischen Klasse am 17. Juli 2020
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https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0027
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Jan Christian Gertz

seines Vaters Noah, der sich betrunken in sein Zelt zurückgezogen hat, und lässt
sich darüber vor seinen Brüdern aus. Diese reagieren jedoch mit Respekt und be-
decken den Vater, ohne ihn anzusehen. Nach seinem Erwachen verflucht Noah
Kanaan und dessen Nachkommen zu Knechten aller Völker, während er Sem, Ja-
fet und deren Nachkommen segnet. In der sehr sparsam formulierten Erzählung
bleibt offen, worin Harns Vergehen besteht und warum Kanaan statt seines Va-
ters Ham verflucht wird. In der Auslegungsgeschichte ist die offene Formulierung
„Noah erkannte, was sein jüngster Sohn ihm angetan hatte“ (Gen 9,24) häufig als
Leerstelle verstanden worden, die dazu auffordert, sich das Geschehen aus Andeu-
tungen des Textes zu erschließen. Hierzu zählt vor allem die idiomatische Bedeu-
tung der Wendung vom „Sehen“ und „Entblößen der Scham“ (Gen 9,22.23) im
Sinne von „Geschlechtsverkehr haben“ (vgl. Lev 18,6—19; Lev 20,11.17.19—21).
So wurde wegen der sprachlichen Nähe zu den Inzestverboten des Buches Le-
vi tikus in der frühjüdischen Exegese diskutiert, ob es sich bei dem Vergehen um
einen Inzest mit der (nicht erwähnten!) Frau Noahs, einen inzestuös-homosexu-
ellen Missbrauch des Vaters oder dessen Kastration durch Ham gehandelt habe.
Doch derartige Konkretisierungen fügen sich nur schlecht in den Kontext, der
ein besonderes Gewicht auf Harns Erzählen vor seinen Brüdern legt. Gleichwohl
führt der Hinweis auf die Inzestverbote und die sexuelle Konnotation des ver-
wendeten Vokabulars in die richtige Richtung. Das Vergehen Harns besteht im
Sehen der Scham des Vaters und dem Umstand, dass sich Ham darüber vor seinen
Brüdern auslässt. Im Kontrast zu diesem despektierlichen Verhalten steht dasje-
nige der Brüder. Sie erweisen dem Vater gegenüber Ehrfurcht. Es geht bei dem
Vergehen Harns also um eine Frage von Scham und Ehre. Verletzt das Entblößen
der Scham die Würde und die Integrität der Person, so besteht im Fall Harns das
eigentliche Vergehen in der fehlenden Diskretion. Ham erzählt seinen Brüdern
von dem Vorfall, macht ihn dadurch erst öffentlich und entehrt so den Vater. Die
begriffliche Nähe zu den Inzestverboten des Buches Levitikus deutet zudem auch
eine Begründung der Verfluchung Kanaans für die Tat seines Vaters Ham an. Die
Inzestverbote werden mit dem Hinweis eingeschärft, dass die Vorbewohner des
Landes („Kanaanäer“) ihr Land wegen derartiger Vergehen verlieren werden (Lev
20,22f; vgl. Lev 18,3). Der Vorfall sollte und musste daher bei seinen schriftkun-
digen Lesern die stereotype Erwähnung der in der alttestamentlichen Überliefe-
rung ohnehin schlecht beleumdeten Kanaanäer ins Bewusstsein rufen. Die sexuell
konnotierte Übertretung Harns zielt auf die moralische Verurteilung Kanaans, der
abwesenden aber stets präsenten Hauptfigur der Erzählung. Sollte die gewünsch-
te Abqualifizierung Kanaans zum Knecht aller Völker in einem urgeschichtlichen
Einzelgeschehen begründet werden, dann musste dies noch vor der Ausdifferen-
zierung der Söhne Noahs zu den Völkern der Erde in der Völkertafel platziert wer-
den. Wegen der ethno-geographischen Vorgaben der Völkertafel konnte aber nur
mittelbar von Kanaan die Rede sein. Deshalb musste Harns Vergehen zum Anlass

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