I. Wissenschaftliche Vorträge
nennt die Völkertafel Kusch, Mizrajim, Put und Kanaan (Gen 10,6). Es sind die
Eponyme von Völkerschaften, die am westlichen und süd-westlichen Rand der
den Autoren bekannten Welt beheimatet sind. Ihr Gebiet umfasst das heutige Li-
byen und angrenzende Regionen bis Mauretanien im Westen (Put), den Nil von
Ägypten (Mizrajim) bis in den heutigen Sudan und Äthiopien (Kusch) sowie -
nimmt man die Söhne und Enkel von Kusch mit hinzu (Gen 10,7) - die Arabische
Halbinsel vom Golf von Akaba bis zum Golf von Aden.
Die Einordnung Kanaans fällt ein wenig aus dem geographischen Rahmen.
Kanaan bezeichnet in keilschriftlichen und ägyptischen Texten der zweiten Hälfte
des 2. Jt. v. Chr. den südlichen, von Ägypten kontrollierten Teil der syrisch-paläs-
tinischen Landbrücke. Nach der geographischen Ordnung der Völkertafel müsste
Kanaan wie die Vorfahren des nachmaligen Israel also zu den Söhnen Sems gezählt
werden. Man hat vermutet, dass die Zuordnung auf einer sehr alten Tradition be-
ruht, insofern sie den genannten politischen Verhältnissen der zweiten Hälfte des
2. Jt. v. Chr. entspricht. Wahrscheinlicher ist indes, dass die Zuordnung Kanaans
zu Ham auf die ethnographisch-historische Konzeption der Priesterschrift zurückzu-
führen ist. Nach dem auch von der Priesterschrift geteilten Geschichtsbild des
Alten Testaments gelangt Israel von außen in das Land Kanaan, in dem einst die
Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob als „Fremde“ unter den Kanaanäern weil-
ten. Nach seiner Selbstwahrnehmung ist das Israel des Alten Testaments von der
autochthonen Bevölkerung des verheißenen Landes also deutlich unterschieden.
„Israel“ und „Kanaan“ sind zwei einander fremde, gar feindliche Völker. Folge-
richtig zählt die Priesterschrift Kanaan zu den Söhnen Harns und die Ahnherren
des nachmaligen Israel zu den Söhnen Sems. In historischer Perspektive ist die
Entstehung „Israels“ jedoch das Ergebnis eines komplexen Prozesses innerhalb des
Kulturlandes, in dem „Israel“ in und aus „Kanaan“ hervorgegangen ist. Der im
Alten Testament dargestellte Gegensatz zwischen „Israel“ und „Kanaan“ ist kein
ethnischer Konflikt, sondern ein Interpretationsmuster, durch den sich das Alte
Testament in Distanz zum eigenen Lebensraum, der eigenen Geschichte und eth-
nischen Zugehörigkeit setzt. Leitend ist dabei das Bemühen, Israel im Exil Kriteri-
en der Abgrenzung nach außen und der Identitätsstiftung nach innen vorzugeben.
Die Zuordnung Kanaans zu Ham in der Völkertafel hat also ideologische Gründe.
Sie trägt die im Alten Testament gängige Unterscheidung von „Israel“ und „Kana-
an“ in die ethno-geographische Ordnung der nachsintflutlichen Welt ein.
In der Völkertafel der Priesterschrift, die insgesamt das Ideal einer sich fried-
lich ausdifferenzierenden Welt gleich geachteter Völker entfaltet, wird der für die
Selbstwahrnehmung Israels grundlegende Gegensatz von „Israel“ und „Kanaan“
gelehrt-nüchtern notiert. Eine ganz andere Tonart schlagen jüngere Bearbeiter mit
der Erzählung von „Noah und seinen Söhnen“ an, die sie nachträglich in die ge-
nealogischen Angaben der Priesterschrift eingehängt haben (Gen 9,18 — 29): Ham,
der zweimal ausdrücklich als der „Väter Kanaans“ bezeichnet wird, sieht die Scham
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nennt die Völkertafel Kusch, Mizrajim, Put und Kanaan (Gen 10,6). Es sind die
Eponyme von Völkerschaften, die am westlichen und süd-westlichen Rand der
den Autoren bekannten Welt beheimatet sind. Ihr Gebiet umfasst das heutige Li-
byen und angrenzende Regionen bis Mauretanien im Westen (Put), den Nil von
Ägypten (Mizrajim) bis in den heutigen Sudan und Äthiopien (Kusch) sowie -
nimmt man die Söhne und Enkel von Kusch mit hinzu (Gen 10,7) - die Arabische
Halbinsel vom Golf von Akaba bis zum Golf von Aden.
Die Einordnung Kanaans fällt ein wenig aus dem geographischen Rahmen.
Kanaan bezeichnet in keilschriftlichen und ägyptischen Texten der zweiten Hälfte
des 2. Jt. v. Chr. den südlichen, von Ägypten kontrollierten Teil der syrisch-paläs-
tinischen Landbrücke. Nach der geographischen Ordnung der Völkertafel müsste
Kanaan wie die Vorfahren des nachmaligen Israel also zu den Söhnen Sems gezählt
werden. Man hat vermutet, dass die Zuordnung auf einer sehr alten Tradition be-
ruht, insofern sie den genannten politischen Verhältnissen der zweiten Hälfte des
2. Jt. v. Chr. entspricht. Wahrscheinlicher ist indes, dass die Zuordnung Kanaans
zu Ham auf die ethnographisch-historische Konzeption der Priesterschrift zurückzu-
führen ist. Nach dem auch von der Priesterschrift geteilten Geschichtsbild des
Alten Testaments gelangt Israel von außen in das Land Kanaan, in dem einst die
Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob als „Fremde“ unter den Kanaanäern weil-
ten. Nach seiner Selbstwahrnehmung ist das Israel des Alten Testaments von der
autochthonen Bevölkerung des verheißenen Landes also deutlich unterschieden.
„Israel“ und „Kanaan“ sind zwei einander fremde, gar feindliche Völker. Folge-
richtig zählt die Priesterschrift Kanaan zu den Söhnen Harns und die Ahnherren
des nachmaligen Israel zu den Söhnen Sems. In historischer Perspektive ist die
Entstehung „Israels“ jedoch das Ergebnis eines komplexen Prozesses innerhalb des
Kulturlandes, in dem „Israel“ in und aus „Kanaan“ hervorgegangen ist. Der im
Alten Testament dargestellte Gegensatz zwischen „Israel“ und „Kanaan“ ist kein
ethnischer Konflikt, sondern ein Interpretationsmuster, durch den sich das Alte
Testament in Distanz zum eigenen Lebensraum, der eigenen Geschichte und eth-
nischen Zugehörigkeit setzt. Leitend ist dabei das Bemühen, Israel im Exil Kriteri-
en der Abgrenzung nach außen und der Identitätsstiftung nach innen vorzugeben.
Die Zuordnung Kanaans zu Ham in der Völkertafel hat also ideologische Gründe.
Sie trägt die im Alten Testament gängige Unterscheidung von „Israel“ und „Kana-
an“ in die ethno-geographische Ordnung der nachsintflutlichen Welt ein.
In der Völkertafel der Priesterschrift, die insgesamt das Ideal einer sich fried-
lich ausdifferenzierenden Welt gleich geachteter Völker entfaltet, wird der für die
Selbstwahrnehmung Israels grundlegende Gegensatz von „Israel“ und „Kanaan“
gelehrt-nüchtern notiert. Eine ganz andere Tonart schlagen jüngere Bearbeiter mit
der Erzählung von „Noah und seinen Söhnen“ an, die sie nachträglich in die ge-
nealogischen Angaben der Priesterschrift eingehängt haben (Gen 9,18 — 29): Ham,
der zweimal ausdrücklich als der „Väter Kanaans“ bezeichnet wird, sieht die Scham
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