/X. Das akademische Jahr 2020
I. Wissenschaftliche Vorträge
Andreas Meyer-Lindenberg
„Natur und Gehirn - neue Daten zu einem alten Konzept"
Sitzung der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse am 24. Januar 2020
Nach einer Evolutions- und Kulturgeschichte, in der die Mehrheit der Mensch-
heit in einer ländlichen Umgebung lebte und sich daran anpasste, lebt heute die
Hälfte der Weltbevölkerung in Städten, eine Zahl, die bis 2050 voraussichtlich
auf zwei Drittel ansteigen wird1. Diese rasche Urbanisierung hat weitreichende
Auswirkungen auf die Gesellschaft, die öffentliche Gesundheit und die Politik.
Meta-Analysen zeigen, dass Stadtbewohner, obwohl sie von einem verbesserten
Lebensstandard und einem besseren Zugang zu Bildung und Gesundheitsver-
sorgung profitieren3, im Durchschnitt ein um 20 bis 40 Prozent höheres Risiko
haben, psychische Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen zu ent-
wickeln, und dass Menschen, die in Städten geboren und aufgewachsen sind, ein
dreifach erhöhtes Risiko für Psychosen haben4,5. Längsschnittstudien haben das
städtische Umfeld als Ursache der Erhöhung des psychiatrischen Risikos nachge-
wiesen6. Die meisten Forscher sind der Meinung, dass ungünstige soziale Facetten
des städtischen Umfelds, wie z. B. größere Anonymität, reduzierte unterstützen-
de soziale Netzwerke, Wettbewerb und Aggression, das emotionale Wohlbefinden
verringern und soziale Stresserfahrungen im täglichen Leben fördern6 7. Während
diese grundlegende soziale Struktur der Städte sich nicht auf plausible Weise än-
dern lässt, bieten physische Aspekte der städtischen Umwelt einen Risiko- und
Resilienzkontext, der im Prinzip veränderbar ist.
Von diesen physischen Merkmalen ist die Stadtbegrünung (Urban Green
Space, UGS), die durch Straßenbäume, Rasenflächen und öffentliche Parks ent-
steht, die in der Stadtlandschaft verstreut sind, als Schutzfaktor besonders inter-
essant. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass Naturerfahrungen zu einer besseren
Gesundheit beitragen8, insbesondere zu erhöhter körperlicher Aktivität, verbes-
serten kognitiven Fähigkeiten und sozialen Interaktionen sowie zu einer Verrin-
gerung negativer Emotionen und Grübeln und einer schnelleren Erholung von
Stress9-11. Dies könnte darauf hindeuten, dass sich der Mensch, und damit auch
das menschliche Gehirn, „biophil“12 entwickelt hat, um natürliche Umgebungen
zu suchen und zu bevorzugen, die für das Überleben in der afrikanischen Savanne,
wo unsere Spezies ihren Ursprung hat, förderlich waren. Einige dieser Vorteile
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I. Wissenschaftliche Vorträge
Andreas Meyer-Lindenberg
„Natur und Gehirn - neue Daten zu einem alten Konzept"
Sitzung der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse am 24. Januar 2020
Nach einer Evolutions- und Kulturgeschichte, in der die Mehrheit der Mensch-
heit in einer ländlichen Umgebung lebte und sich daran anpasste, lebt heute die
Hälfte der Weltbevölkerung in Städten, eine Zahl, die bis 2050 voraussichtlich
auf zwei Drittel ansteigen wird1. Diese rasche Urbanisierung hat weitreichende
Auswirkungen auf die Gesellschaft, die öffentliche Gesundheit und die Politik.
Meta-Analysen zeigen, dass Stadtbewohner, obwohl sie von einem verbesserten
Lebensstandard und einem besseren Zugang zu Bildung und Gesundheitsver-
sorgung profitieren3, im Durchschnitt ein um 20 bis 40 Prozent höheres Risiko
haben, psychische Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen zu ent-
wickeln, und dass Menschen, die in Städten geboren und aufgewachsen sind, ein
dreifach erhöhtes Risiko für Psychosen haben4,5. Längsschnittstudien haben das
städtische Umfeld als Ursache der Erhöhung des psychiatrischen Risikos nachge-
wiesen6. Die meisten Forscher sind der Meinung, dass ungünstige soziale Facetten
des städtischen Umfelds, wie z. B. größere Anonymität, reduzierte unterstützen-
de soziale Netzwerke, Wettbewerb und Aggression, das emotionale Wohlbefinden
verringern und soziale Stresserfahrungen im täglichen Leben fördern6 7. Während
diese grundlegende soziale Struktur der Städte sich nicht auf plausible Weise än-
dern lässt, bieten physische Aspekte der städtischen Umwelt einen Risiko- und
Resilienzkontext, der im Prinzip veränderbar ist.
Von diesen physischen Merkmalen ist die Stadtbegrünung (Urban Green
Space, UGS), die durch Straßenbäume, Rasenflächen und öffentliche Parks ent-
steht, die in der Stadtlandschaft verstreut sind, als Schutzfaktor besonders inter-
essant. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass Naturerfahrungen zu einer besseren
Gesundheit beitragen8, insbesondere zu erhöhter körperlicher Aktivität, verbes-
serten kognitiven Fähigkeiten und sozialen Interaktionen sowie zu einer Verrin-
gerung negativer Emotionen und Grübeln und einer schnelleren Erholung von
Stress9-11. Dies könnte darauf hindeuten, dass sich der Mensch, und damit auch
das menschliche Gehirn, „biophil“12 entwickelt hat, um natürliche Umgebungen
zu suchen und zu bevorzugen, die für das Überleben in der afrikanischen Savanne,
wo unsere Spezies ihren Ursprung hat, förderlich waren. Einige dieser Vorteile
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