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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

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A. Das akademische Jahr 2020
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I. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Dabringhaus, Sabine: Das spätkaiserliche Imperium in China: Eine Forschungsdebatte: Sitzung der Philosophisch-historischen Klasse am 27. November 2020
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https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0061
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Sabine Dabringhaus

Projekt mit dem schlichten Namen „Geschichte der Qing“ (Qingshl), dessen Ab-
schluss unmittelbar bevorzustehen scheint. Datensicherung und Deutungshoheit
sind dabei eng miteinander verbunden. Mehr als 1.600 Wissenschaftler wurden
beteiligt, 34 Archivbestände digitalisiert. In seinem Aufbau orientiert sich das auf
100 Bände angelegte Werk an den alten Dynastiegeschichten, die jede Dynastie
über ihre Vorgängerin anzufertigen pflegte.
Die geschichtspolitischen Vorgaben sind heute wesentlicher strikter als in der
Reformzeit vor vierzig Jahren. Staatliche Zensoren werfen einen letzten Blick auf
die Manuskripte. Das Ziel dieser hochoffiziellen Dokumentation des Qing-Erbes
im 21. Jahrhundert ist offensichtlich, bevor die Bände vorliegen: die Verherrlichung
nationaler Größe und die Untermauerung des heutigen Weltmachtanspruchs, teils
aus den reichsbildenden Erfolgen des 18. Jahrhunderts, teils aus der Opfererfah-
rung der Niedergangsphase zwischen 1839 und 1911, als die Dynastie gestürzt
wurde. Man kann gespannt sein, wie in der Qingshi mit der immens reichhalti-
gen westlichen und japanischen Forschung umgegangen wird. Umgekehrt lässt
sich vorhersehen, dass westliche Expertinnen und Experten von den chinesischen
Deutungsangeboten wenig beeindruckt sein werden. Zu stark dürfte das staatlich
forcierte Grundnarrativ durchscheinen.
Die westliche Qing-Forschung, deren Zentrum lange Zeit Harvard war,
konzentrierte sich in den 1950er und 1960er Jahren fast ganz auf „China’s re-
sponse to the West“, d. h. die Zeit nach den Opiumkriegen. Erst ab etwa 1970
erschienen eine Reihe bedeutender Bücher über High Qing, also das späte „vor-
koloniale“ China. Es ging dabei zunächst um Politikgeschichte in einem wei-
ten Sinne mit Schwerpunkten einerseits auf der Bürokratie, andererseits auf der
Regierungspraxis und der Selbstdarstellung der drei großen Monarchen. 1985
erschien endlich ein Standardwerk zur Gründung der Dynastie im 17. Jahrhun-
dert, verfasst von dem amerikanischen Historiker Fredcric Wakeman. Schritt für
Schritt brach die westliche Qing-Forschung mit ihren frühen Stereotypen: China
wurde keineswegs erst von den europäischen Kolonialmächten in den Opium-
kriegen Mitte des 19. Jahrhunderts „geöffnet“. Sowohl die Integration in globale
Prozesse als auch die Krise der imperialen Ordnung hatten viel früher begon-
nen. Die Ausdifferenzierung eines eigenständigen Faktors der Mandschuren in
der Qing-Geschichte leitete eine zunehmende Abkehr von der sinozentrischen
Sichtweise auf das Imperium ein, das nunmehr als ein - durchaus spannungs-
reiches - mandschurisch-chinesisches joint venture portraitiert wurde. Zugleich
rückte die gesamte innerasiatische Peripherie des Qing-Staates in den Blick, ein-
schließlich ihrer militärischen Unterwerfung. Ein Inner Asian turn wurde zum
Kern der um das Jahr 2000 in den USA geradezu dominant auftretenden New
Qing History. In extremer Form wurde sie zu einer Ethnogeschichte von Diver-
sität innerhalb eines lockeren staatlichen Rahmens: eine Perspektive nicht ohne
Bezug zur Situation in den USA.

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