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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

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A. Das akademische Jahr 2020
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I. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Dabringhaus, Sabine: Das spätkaiserliche Imperium in China: Eine Forschungsdebatte: Sitzung der Philosophisch-historischen Klasse am 27. November 2020
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https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0060
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I. Wissenschaftliche Vorträge

schwach genug gewesen war, sich „Barbaren“ geschlagen zu geben. Die Qing-Zeit
war eine Peinlichkeit: nicht nur das katastrophale 19. Jahrhundert, sondern auch
schon das 18., dem der Glanz der Ming-Zeit (1368—1644) zu fehlen schien.
Das erste wissenschaftliche Standardwerk, Xiao Yishans (1902—1978) Allge-
meine Geschichte der Qing-Zeit (Qingdai tongshi), erschien 1932 und war eine direkte
Antwort auf drängende Probleme der Gegenwart. Xiao Yishan ging es darum, die
Geschichte der Mandschurei, d. h. des Herkunftsgebiets des Qing-Herrscherhau-
ses, als Teil der Geschichte Chinas darzustellen und damit japanische Ansprüche
auf dieses Gebiet abzuwehren. Die chinesische Qing-Forschung entstand zunächst
aus dem Geist eines defensiven Nationalismus und wurde in der Volksrepublik
nach 1949 den engen Vorgaben der marxistischen Staatsideologie unterworfen.
Man konzentrierte sich auf die Periodisierung, die Veränderungen in feudalen
Grundbesitzverhältnissen, die misslungenen Anfänge einer kapitalistischen Ent-
wicklung und die Rolle von Bauernaufständen als Motor der Geschichte. Die
Qing-Kaiser schnitten dabei schlecht ab. Sie galten als rückständig und ausbeute-
risch, wie von Feudalherrschern nicht anders zu erwarten.
Eine neue Epoche begann 1978 mit der Gründung des Instituts für Qing-
Geschichte in Beijing. DengXiaoping ließ die Herausgabe einer offiziellen Qing-
Geschichte in den 6. Fünfjahresplan für die Jahre 1981 bis 1985 aufnehmen.
Obwohl das Vordringen des westlichen Imperialismus als prägende Kraft der neu-
eren Geschichte Chinas gesehen wurde, griff man auf der Suche nach langfristigen
Entwicklungslinien auch hinter den Opiumkrieg zurück. Die Multikulturalität
des Qing-Imperiums wurde zum Leitbild der Konsolidierung eines „einheitlichen
Vielvölkerstaates“ (tongyi duominzu guojia) umgedeutet. Ein wichtiges Produkt der
neuartigen Qing-Forschung aus dem Geiste von Reform und Öffnung erschien be-
reits 1980. Das zweibändige Kollektivwerk „Einführung in die Qing-Geschichte“
(Jianming Qingshi) war stärker aus Quellen gearbeitet als frühere Literatur, immer
noch im marxistischen Vokabular von Klassenkämpfen und feudaler Ausbeutung
gehalten, aber neu in zweifacher Hinsicht: Zum einen wurde nun der erstaunliche
Aufstieg der Mandschuren während der ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts in
einem breiteren internationalen Kontext verortet; zum anderen erschienen die drei
großen Kaiser Kangxi, Yongzhcng und Qianlong, die von 1661 bis 1796 in direkter
Abfolge auf dem Drachenthron saßen, in einem viel günstigeren Licht als früher.
Aus den üblen Feudalhcrrschern wurden große Einheitsstifter und Organisatoren
nationaler Stärke. Der bis heute andauernde, auch in Filmen und Fernsehserien
gepflegte Kult um die drei Kaiser nimmt hier seinen Anfang. In Europa hatte er
bereits mit den Jesuitenmissionaren begonnen, die Augenzeugen des Geschehens
gewesen waren.
2002 ergriff abermals ein Staatsführer die Initiative, um eine offizielle Qing-
Geschichte voranzutreiben: Jiang Zemin setzte ein hochrangiges Herausgebergre-
mium ein und bewilligte umgerechnet ca. 64 Millionen Euro für ein gigantisches

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