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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

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B. Die Mitglieder
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Männlein-Robert, Irmgard: Richard Kannicht: (5. 10. 1931−21. 6. 2020)
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https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0140
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B. Die Mitglieder

des Euripides von Johann Jakob Christian Donner (aus dem Jahr 1843) sowie
das integrative Projekt der Musa Tragica, wo unter seiner Ägide eine hochkaräti-
ge Arbeitsgruppe von Studierenden, Doktoranden und jüngeren Tübinger und
internationalen Wissenschaftlern eine zweisprachige kommentierte Ausgabe der
Fragmente derjenigen griechischen Tragiker erarbeitete, die vor, neben und nach
den bekannten Autoren Aischylos, Sophokles und Euripides gewirkt hatten (Mu-
sa Tragica. Die griechische Tragödie von Thespis bis Ezechiel. Ausgewählte Zeugnisse und
Fragmente griechisch und deutsch, Göttingen 1991). In intensiven Arbeitstreffen in
Tübingen oder im Berghaus Iseler am Oberjoch entstand so unter Richard Kan-
nichts fachkundiger und kooperativer Führung ein wichtiges und wegweisendes
Arbeitsinstrument für die künftige Erschließung der überlieferten Fragmente der
griechischen Tragödie, das den wissenschaftlichen Horizont in diesem Gebiet be-
trächtlich erweitert hat.
Es ging Richard Kannicht aber nicht nur und nicht ausschließlich um große
griechische Texte wegen deren historischen, kulturellen oder ästhetischen Wertes,
es ging ihm immer auch um die Bedeutung derselben für die Menschen der Ge-
genwart. Ihm lag das in diesen Texten enthaltene, zeitunabhängig-aufklärerische
und selbstverwandelnde Potenzial für jede Generation am Herzen, wie er in sei-
ner berühmt gewordenen Tübinger Antrittsrede von 1970 mit dem Titel Philologie
perennis? programmatisch und eindrucksvoll vorführte: Energisch formulierte er
dort „daß wir Philologie entschieden nicht um ihret-, sondern um unsertwillen
betreiben“ (ebd. S. 374). Kannicht wandte bereits zum damaligen Zeitpunkt die
Gadamer’schc philosophische Hermeneutik gewinnbringend auf die klassischen
griechischen Texte an und schrieb sich damit methodisch und wegweisend in die
allgemeine Literaturwissenschaft ein (Philologie perennis?, in: Ders., Peredeigmeta.
Aufsätze zur griechischen Poesie. Hrsg, von L. Käppel und E.A. Schmidt, Heidelberg
1998, S. 13-42).
Doch nicht nur seine Buchpublikationen, sondern auch viele seiner kleineren
Schriften, wie etwa die zum „Verhältnis von Dichtung und Bildkunst. Die Rezep-
tion der Troia-Epik in den frühgriechischen Sagenbildern“ (1977) oder „Der alte
Streit zwischen Philosophie und Dichtung. Grundzüge der griechischen Litera-
turauffassung“ (1980) oder zur Griechischen Metrik (1997) sind längst Standard-
werke für die Klassische Philologie geworden und werden es wohl auch bleiben.
Die menschliche Komponente seiner philologischen Anliegen drückte sich immer
auch im Bemühen aus, seine Studierenden möglichst umfassend auch mit der an-
tiken Lebenswelt und Kultur vertraut zu machen. Seine zahlreichen minutiös vor-
bereiteten, von ihm geleiteten und seiner Frau Irmgard begleiteten Exkursionen
nach Griechenland, in die Türkei und nach Italien waren wohl nicht unanstren-
gend, aber legendär und blieben bei allen in bester Erinnerung.
Wie wenige andere hat er es dabei auch verstanden, die Funktion des philolo-
gischen Details im Rahmen einer literarischen Interpretation des Textes nicht nur

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