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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

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D. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
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II. Das WIN-Kolleg
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Siebter Forschungsschwerpunkt „Wie entscheiden Kollektive?“
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1. Heiligenleben: Erzählte Heiligkeit zwischen Individualentscheidung und kollektiver Anerkennung
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https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0294
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D. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses

Siebter Forschungsschwerpunkt
„Wie entscheiden Kollektive?"
7. Heiligenleben: Erzählte Heiligkeit zwischen Individual-
entscheidung und kollektiver Anerkennung
Kollegiaten und Kollegiatinnen:
Dr. Daniela Blum1'4, Prof. Dr. Nicolas Detering2,
Dr. Marie Gunreben3, Dr. Beatrice von Lüpke1
1 Eberhard Karls Universität Tübingen
2 Universität Bern
3 Universität Konstanz
Diözesanmuseum Rottenburg
Das Projekt untersucht kollektives Entscheiden am Beispiel von Legenden des
Mittelalters und der Neuzeit. In der Zusammenschau von hagiographischen
Texten und ihren Kontexten zeigt sich, dass Heiligkeit keine transzendente, un-
verfügbare Qualität, sondern Ergebnis eines kommunikativen, gesellschaftlichen
Prozesses ist: Heiligkeit wird zugesprochen. Sic beruht auf einer kollektiven Ent-
scheidung im posthumen Urteil. Darüber, wer aus welchen Gründen als heilig gilt
und entsprechend verehrt wird, entscheiden in erster Linie Glaubensgemeinschaf-
ten; denn auch die institutionalisierte Heiligsprechung entwickelt sich - insbe-
sondere in ihren mittelalterlichen Anfängen - zunächst als Reaktion auf eine kol-
lektive Verehrungspraxis. Damit sie gemeinschaftlich anerkannt wird, bedarf die
Behauptung von Heiligkeit der narrativen Plausibilisierung, für die legendarische
Erzählmuster ein Muster bereitstellen. Entscheidungsprozesse spielen nicht nur
im Kanonisierungs- und Anerkennungsprozess, sondern auch als innertextliches
Element eine zentrale Rolle. Die Legenden berichten von Kollektiven, die die hei-
lige Person bewundern, ihre Wunder bestätigen und von ihrer göttlichen Auser-
wählung überzeugt sind. Vor allem aber gehört es zu den produktiven Problemen
legendarischer Erzählungen, dass sie darüber hinaus zwei Entscheidungsinstanzen
kennen, die zueinander in einem spannungsvollen Verhältnis stehen, wenn sie sich
nicht sogar ausschließen: Da ist zunächst das Individuum, dessen innere Exzeptio-
nalität die Basis seines außergewöhnlichen Lebens bildet. Heiligkeit als Auszeich-
nung eines moralisch vorbildlichen Lebenswegs impliziert, dass sich die heilige
Person auch anders hätte entscheiden können, für das Böse anstelle des Guten.
Das individuelle Entscheidungsvermögen der heiligen Person verhält sich jedoch
wiederum spannungsvoll zu ihrer providentiellen Erwählung. Die Texte beschrei-
ben ein Leben, das nicht nur auf eigenen Handlungs- und Entscheidungsmomen-
ten beruht, sondern von Anfang an unter dem Aspekt der göttlichen Wahl steht.

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