Thomas Maissen
Singularität in einer Konkurrenz historischer Opfer zusehends in Frage gestellt
wurde. Ihre Liste ist lang. Sie zu vergessen sei gleichwohl verboten. Es wäre die
Verlängerung des Verbrechens durch Auslöschen der Ermordeten auch aus der Er-
innerung.
Dieses Verbot des Vergessens ist vielleicht besser zu definieren als eingefor-
dertes Recht auf eine Erinnerung; und zwar in dem Sinn, dass das Kollektiv diese
individuellen Schicksale nicht vergessen darf und die Opfer von früher nicht län-
ger mit ihren Erinnerungen alleine gelassen werden sollen. Im Zeitalter der Obli-
vionsklauseln waren die Opfer eines Konflikts dagegen auf dem Altar des Friedens
noch einmal geopfert worden, weil sie ihren Anspruch auf Rache, Gerechtigkeit
oder Entschädigung preisgeben mussten. Das verfügte Vergessen war fatalistisch,
insofern es nicht hoffte, die sündhafte Natur des gefallenen und immer wieder
rückfälligen Menschen zu ändern.
Das hat sich grundlegend verändert. Wir gehen davon aus, dass sich Menschen
grundsätzlich ohne größere Konflikte sozial verhalten können; erst recht, wenn sie
regelmäßig zur Abschreckung an falsches Verhalten erinnert werden und früheres
Unrecht rückwirkend durch Wiedergutmachung kompensiert wird. Das Unrecht
würden sonst stets dieselben Gruppen erleiden, weil - und wenn - es nicht erin-
nert werde. Opfer werden vergessen, Vergessene sind Opfer. Gerechtigkeit, selbst
und gerade wenn sie postum erfolgt, will nicht nur erlittenes Unrecht korrigieren,
sondern soll künftiges Unrecht verhindern, namentlich Ungleichheit.
So ist die Erinnerung an Vergangenes allgegenwärtig in aktuellen Debatten, in
denen die Vergangenheit nicht vergehen und nicht vergessen gehen darf (Henry
Rousso). Im Zeitalter des „Präsentismus“ (Frangois Hartog) wird die Vergangen-
heit enthistorisiert. Ihr wird der Prozess gemacht ohne Rücksicht auf mildernde
Umstände, nämlich die fundamentale Andersartigkeit von damals und heute. An-
gesichts der enormen Dimensionen historischen Unrechts besteht ein weiteres
Problem in beschränkten Ressourcen, wenn ein grundsätzlicher Kampf gegen das
Vergessen versprochen wird, so wenn gewisse Verbrechen durch Unverjährbarkeit
dem Vergessen entzogen werden sollen. Ob das kollektive Versprechen rückwir-
kender Gerechtigkeit einzulösen ist, muss sich noch weisen.
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Singularität in einer Konkurrenz historischer Opfer zusehends in Frage gestellt
wurde. Ihre Liste ist lang. Sie zu vergessen sei gleichwohl verboten. Es wäre die
Verlängerung des Verbrechens durch Auslöschen der Ermordeten auch aus der Er-
innerung.
Dieses Verbot des Vergessens ist vielleicht besser zu definieren als eingefor-
dertes Recht auf eine Erinnerung; und zwar in dem Sinn, dass das Kollektiv diese
individuellen Schicksale nicht vergessen darf und die Opfer von früher nicht län-
ger mit ihren Erinnerungen alleine gelassen werden sollen. Im Zeitalter der Obli-
vionsklauseln waren die Opfer eines Konflikts dagegen auf dem Altar des Friedens
noch einmal geopfert worden, weil sie ihren Anspruch auf Rache, Gerechtigkeit
oder Entschädigung preisgeben mussten. Das verfügte Vergessen war fatalistisch,
insofern es nicht hoffte, die sündhafte Natur des gefallenen und immer wieder
rückfälligen Menschen zu ändern.
Das hat sich grundlegend verändert. Wir gehen davon aus, dass sich Menschen
grundsätzlich ohne größere Konflikte sozial verhalten können; erst recht, wenn sie
regelmäßig zur Abschreckung an falsches Verhalten erinnert werden und früheres
Unrecht rückwirkend durch Wiedergutmachung kompensiert wird. Das Unrecht
würden sonst stets dieselben Gruppen erleiden, weil - und wenn - es nicht erin-
nert werde. Opfer werden vergessen, Vergessene sind Opfer. Gerechtigkeit, selbst
und gerade wenn sie postum erfolgt, will nicht nur erlittenes Unrecht korrigieren,
sondern soll künftiges Unrecht verhindern, namentlich Ungleichheit.
So ist die Erinnerung an Vergangenes allgegenwärtig in aktuellen Debatten, in
denen die Vergangenheit nicht vergehen und nicht vergessen gehen darf (Henry
Rousso). Im Zeitalter des „Präsentismus“ (Frangois Hartog) wird die Vergangen-
heit enthistorisiert. Ihr wird der Prozess gemacht ohne Rücksicht auf mildernde
Umstände, nämlich die fundamentale Andersartigkeit von damals und heute. An-
gesichts der enormen Dimensionen historischen Unrechts besteht ein weiteres
Problem in beschränkten Ressourcen, wenn ein grundsätzlicher Kampf gegen das
Vergessen versprochen wird, so wenn gewisse Verbrechen durch Unverjährbarkeit
dem Vergessen entzogen werden sollen. Ob das kollektive Versprechen rückwir-
kender Gerechtigkeit einzulösen ist, muss sich noch weisen.
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