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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

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A. Das akademische Jahr 2022
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III. Veranstaltungen
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Verleihung des Karl-Jaspers-Preises 2022 an den Philosophen Volker Gerhardt
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Gerhardt, Volker: Die Soziomorphie des Bewusstseins: eine Überlegung im Anschluss an Karl Jasper
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https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0162
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III. Veranstaltungen

gesichts der prall mit Dingen, Vorgängen und belebten Wesen gefüllten Welt wich-
tigmachen kann, noch irgendetwas anderes, das sich in Empfindungen, Gefühlen,
Erwartungen oder Problem zum Ausdruck zu bringen lohnte. Es bliebe einfach
gar nichts übrig, was sich dem Menschen in einer ihn kennzeichnenden und mit
seinesgleichen sachlich und existenziell verbindenden Weise zuordnen ließe.
Damit entfiele alles, was für den Menschen einen alltagspraktischen, kul-
turellen oder wissenschaftlichen Rang hat, insbesondere das, was den mit jeder
Erkenntnis verbundenen Anspruch auf begriffliche Allgemeinheit und individuelle Be-
deutung ausmacht. Dass Jaspers auch einen Sinn für die offenen Grenzfragen des
Anspruchs auf Wahrheit hat und ausdrücklich Verständnis nicht nur für Anselm
von Canterbury oder Schelling, sondern auch für Kierkegaard und Nietzsche aufbringt,
wird dadurch nicht tangiert.
Jaspers sucht also nicht nach einer neuen Stunde Null, mit der alles, was vor-
her als Wissenschaft galt, neu bewertet und in ein anderes Vokabular übertragen
werden muss. Ihm genügt, wenn der überlieferte Anspruch auf Wahrheit weiterhin
seinen vollen Ernst behält. Dabei kann er davon ausgehen, dass insbesondere auch
jene, die Umbrüche und Revolutionen proklamieren, die Wahrheit nicht suspendieren
können. Selbst Lügner, erst recht jene, die als deren passionierte Parteigänger des Neu-
en die Möglichkeit oder den Geltungsanspruch der Wahrheit leugnen, müssen auf
nichts so sehr setzen wie auf die Wahrheit ihrer Aussagen.
Dass diese Ausgangsvoraussetzung die Philosophie nicht verurteilt, auf der
Stelle zu treten oder sich lediglich mit ihrer eigenen Geschichte zu befassen, das
führt Jaspers in seinem Opus magnum Über die Wahrheit vor - im Angesicht des
Zweiten Weltkriegs und in Erwartung des eigenen Todes, auf den er und seine
Frau Gertrud sich durch die hinreichende Dosis Zyankali eingestellt hatten - für
den angekündigten Fall einer Deportation der jüdischen Frau in ein Vernichtungs-
lager. Der Abtransport war, wie die Insassen ihrer eigenen Wohnung von einem
Vertrauten erfahren hatten, für den 14. April 1945 vorgesehen. Doch vierzehn Tage
zuvor, am 1. April, trafen die amerikanischen Truppen in Heidelberg ein - und die
beiden auf ihren gemeinsamen Tod gefassten Menschen waren gerettet.
4. Erkennen und mitteilen. Der für mein spezielles Interesse zentrale Satz des
Wahrheits-Buches steht in einer Überschrift des zweiten Teils, der das „Umgrei-
fende der Erkenntnis“ behandelt: Dort heißt es lapidar: „Erkennen ist Mitteilung“.
Und mit dieser These öffnet sich ein Zugang zu dem, was ich die Soziomorphie des
Beivusstseins nenne. Sie liegt in der Tatsache, dass die alle Leistungen des Bewusst-
seins dominierende Leistung des Erkennens auf Mitteilung angelegt ist.
Der Ausdruck „Soziomorphie“ findet sich m. W. bei Jaspers nicht. Doch seine
Feststellung, dass Erkennen Mitteilung sei, muss als komprimierter Ausdruck für die
ursprünglich gesellschaftliche Verfassung des Bewusstseins begriffen werden. Also sage
ich nicht zu viel, wenn ich Jaspers, wie übrigens auch Platon, Kant und Nietzsche,
als Anwalt dieses elementaren Sachverhalts ansehe.

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