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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

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A. Das akademische Jahr 2022
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III. Veranstaltungen
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Verleihung des Karl-Jaspers-Preises 2022 an den Philosophen Volker Gerhardt
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Gerhardt, Volker: Die Soziomorphie des Bewusstseins: eine Überlegung im Anschluss an Karl Jasper
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https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0161
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Festvortrag von Prof. Dr. Volker Gerhardt

machen werde, ein Beitrag zur gegenwärtigen Weltlage und zu den leidigen Fragen
der Geschichtspolitik.
3. Logik und Wahrheit. Das Beispiel, um das es mir geht, findet sich in Jaspers’
monumentaler Studie Von der Wahrheit. Das ist eine mehr als tausend Seiten umfas-
sende, systematisch angelegte Untersuchung, die 1947 erschien, und einen einzigen
Gedanken, nämlich den der Wahrheit verfolgt. Vielen Fachphilosophen ist das Werk
bis heute nicht geheuer, auch weil sein Autor es als Abhandlung über „philosophi-
sche Logik“ empfiehlt.
Was hier unter „Logik“ verstanden wird, kann die auf die aktuelle Entwick-
lung der Philosophie setzenden Zeitgenossen schon beim Lesen des Inhaltsver-
zeichnisses veranlassen, das Buch ein für alle Mal beiseite zu legen. Denn kaum
hatten Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts die Schriften Gott-
lob Freges Aufmerksamkeit gefunden, da setzte mit Ludwig Wittgenstein, Moritz
Schlick und Rudolf Carnap eine Bewegung ein, die den Anstoß zum Siegeszug der
Analytischen Philosophie gegeben hat, die inzwischen auch die deutsche Philosophie
dominiert. Ihren Vertretern dürfte es befremdlich erscheinen, sich überhaupt mit
Karl Jaspers zu befassen.
Denn viele von ihnen glauben bis heute, durch eine Bereinigung der logischen
Grundlagen der Sprache eine gänzlich neue Bewegung des Denkens in Gang setzen
zu können. Und gewiss sind auch viele andere davon überzeugt, dass Karl Jaspers
diesen viel beschworenen Umschwung gar nicht zur Kenntnis genommen hat.
Doch das ist ein Irrtum! Denn schon im ersten Kapitel seines Buches wird in kri-
tischer Abgrenzung von Carnap darauf bestanden, dass die Tradition der abendlän-
dischen Philosophie ungebrochen ist und somit alles Philosophieren - und dies von
den Vorsokratikern (ohne sie gegen Platon und Aristoteles auszuspielen!) und noch
über Kant und Hegel hinaus - auf die unverändert gleiche Logik verpflichtet ist, die
keine andere Leistung verspricht als die Klärung und Sicherung der Wahrheit.3
Für Jaspers ist die Logik schon vor 2500 Jahren zum Synonym für das Philoso-
phieren überhaupt geworden. Denn was sollte die Philosophie anderes zur Aufgabe
haben, als die Wahrheit über das zu sagen, was für den Menschen von Bedeutung
ist? Natürlich müssen die Aussagen und die Einsichten der Philosophie spezifisch
auf die Sachverhalte der Welt bezogen sein und damit vornehmlich auf alles, was
für den Menschen erheblich ist. Logik ist für Jaspers das „Organon denkender
Kommunikation“,4 ohne sie gibt es keine Wahrheit und schon gar kein Kriterium
für die sachliche und existenzielle Gewichtung von Aussagen. Sie gehört als notwendige
Bedingung zum zwischenmenschlichen Verkehr.
Denn, so kann man vereinfacht sagen, wenn es die Wahrheit nicht gäbe, gäbe
es buchstäblich nichts - nicht das groß geschriebene Nichts, mit dem man sich an-

3 K. Jaspers, Von der Wahrheit (1947), München 1947, 453 f£
4 Jaspers, ebd., 7.
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