Thomas Maissen
leiblicher Ressourcen den Gesprächspartnern und Gesprächspartnerinnen, schon
simultan zum Redebeitrag des Gegenübers wahrzunehmen, worauf sie ihre Auf-
merksamkeit lenken sollen und ob sie zur Beteiligung eingeladen sind oder nicht.
Für die traditionell vor allem verbal (und stimmlich) untersuchte Positionierung
erlaubt der leibliche Ausdruck, vor oder nach einer verbalen Äußerung, epistemi-
sche oder affektive Evaluationen zum Ausdruck zu bringen, die nur schwer in
Worte zu fassen sind oder die besser gerade nicht verbalisiert werden sollten.
Beide Dimensionen, in denen die Leiblichkeit einen konstitutiven Beitrag
zur Sinnherstellung und Beziehungsgestaltung im Gespräch leistet, können mit
Seiler (19869) als universal angenommen werden; sie werden gleichwohl je nach
kommunikativer Gattung, kulturellen Routinen und situativem (auch medialem)
Kontext partikular unterschiedlich ausgestaltet; dies betrifft insbesondere den Ein-
satz unterschiedlicher leiblicher Ressourcen. Dabei wird insgesamt deutlich, dass
gerade nicht nur Gestik und Mimik, sondern auch Dynamiken im Blickverhalten,
in der Kopfbewegung und in der Körperhaltung eine zentrale Rolle für das Ver-
ständnis von sozialer Interaktion spielen. Liier liegt ein noch weitgehend unbear-
beitetes Potential für kommende Forschungen zu Dimensionen der Leiblichkeit
in der Interaktion.
Thomas Maissen
„Vergessen: Überlegungen aus dem Bereich der
Geschichtswissenschaft"
Gesamtsitzung am 22. Januar 2022
Die Neurowissenschaftlerin und der Historiker beschreiben oft ähnliche Vorgän-
ge, wenn sie individuelles und kollektives Vergessen (und Erinnern) analysieren:
Reaktion auf äußere Informationen und deren Selektion, dauerhaftes Lernen und
dessen Intensivierung etwa durch Wiederholung, Ausweitung und Fokussierung
von Erinnerungskompetenzen, aber auch deren Beschränktheit und Versagen, Aus-
richtung auf die Bewältigung von zukünftigen Herausforderungen; und nicht zu-
letzt die Erfahrung, dass sich Vergessen unserem (individuellen und auch kollekti-
ven?) Willen entziehen kann. Die grundlegende Frage in diesem interdisziplinären
Dialog lautet, ob solche Parallelen in unseren Beschreibungen rein metaphorisch
sind oder tatsächlich in den Organismen Mensch und Gesellschaft analoge Vor-
gänge stattfmden. Diese Frage verdient ein umfassendes Forschungsprojekt und
kann hier nur angesprochen werden. Hingegen wird im Folgenden der epochale
9 Seiler, Hansjakob (1986): Apprehension. Language, object, and order. Part III: The universal
dimension of apprehension. Tübingen: Narr.
47
leiblicher Ressourcen den Gesprächspartnern und Gesprächspartnerinnen, schon
simultan zum Redebeitrag des Gegenübers wahrzunehmen, worauf sie ihre Auf-
merksamkeit lenken sollen und ob sie zur Beteiligung eingeladen sind oder nicht.
Für die traditionell vor allem verbal (und stimmlich) untersuchte Positionierung
erlaubt der leibliche Ausdruck, vor oder nach einer verbalen Äußerung, epistemi-
sche oder affektive Evaluationen zum Ausdruck zu bringen, die nur schwer in
Worte zu fassen sind oder die besser gerade nicht verbalisiert werden sollten.
Beide Dimensionen, in denen die Leiblichkeit einen konstitutiven Beitrag
zur Sinnherstellung und Beziehungsgestaltung im Gespräch leistet, können mit
Seiler (19869) als universal angenommen werden; sie werden gleichwohl je nach
kommunikativer Gattung, kulturellen Routinen und situativem (auch medialem)
Kontext partikular unterschiedlich ausgestaltet; dies betrifft insbesondere den Ein-
satz unterschiedlicher leiblicher Ressourcen. Dabei wird insgesamt deutlich, dass
gerade nicht nur Gestik und Mimik, sondern auch Dynamiken im Blickverhalten,
in der Kopfbewegung und in der Körperhaltung eine zentrale Rolle für das Ver-
ständnis von sozialer Interaktion spielen. Liier liegt ein noch weitgehend unbear-
beitetes Potential für kommende Forschungen zu Dimensionen der Leiblichkeit
in der Interaktion.
Thomas Maissen
„Vergessen: Überlegungen aus dem Bereich der
Geschichtswissenschaft"
Gesamtsitzung am 22. Januar 2022
Die Neurowissenschaftlerin und der Historiker beschreiben oft ähnliche Vorgän-
ge, wenn sie individuelles und kollektives Vergessen (und Erinnern) analysieren:
Reaktion auf äußere Informationen und deren Selektion, dauerhaftes Lernen und
dessen Intensivierung etwa durch Wiederholung, Ausweitung und Fokussierung
von Erinnerungskompetenzen, aber auch deren Beschränktheit und Versagen, Aus-
richtung auf die Bewältigung von zukünftigen Herausforderungen; und nicht zu-
letzt die Erfahrung, dass sich Vergessen unserem (individuellen und auch kollekti-
ven?) Willen entziehen kann. Die grundlegende Frage in diesem interdisziplinären
Dialog lautet, ob solche Parallelen in unseren Beschreibungen rein metaphorisch
sind oder tatsächlich in den Organismen Mensch und Gesellschaft analoge Vor-
gänge stattfmden. Diese Frage verdient ein umfassendes Forschungsprojekt und
kann hier nur angesprochen werden. Hingegen wird im Folgenden der epochale
9 Seiler, Hansjakob (1986): Apprehension. Language, object, and order. Part III: The universal
dimension of apprehension. Tübingen: Narr.
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