Festvortrag von Prof. Dr. Volker Gerhardt
Festvortrag von Prof. Dr. Volker Gerhardt:
„Die Soziomorphie des Bewusstseins.
Eine Überlegung im Anschluss an Karl Jaspers"
1. Danksagung. Karl Jaspers war es, der mir, als ich noch Schüler war, den Weg zur
Philosophie eröffnete. Das hat meinem Leben eine Richtung gegeben, die ich zu
keinem Zeitpunkt bereuen musste. Vor diesem Hintergrund bedeutet mir der Karl-
Jaspers-Preis mehr, als ich in Worte fassen kann. Hinzu kommt die Genugtuung darü-
ber, dass Jaspers, nach Basel und neben Oldenburg und Göttingen, vornehmlich hier
in Heidelberg wieder einen wissenschaftlichen Ort gefunden hat. Ich danke also der
Universität Heidelberg, der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Stadt Heidel-
berg, vertreten durch den Rektor, den Präsidenten der Akademie, und den Oberbürgermeis-
ter der Stadt, auf das Herzlichste für diese mir sehr willkommene Ehrung! Auch den
Laudator, Andreas Urs Sommer, der mir in seinem freundlichen Urteil über meine
philosophische Entwicklung deutlich gemacht hat, wie sehr ich dem Werk von Karl
Jaspers verpflichtet bin, beziehe ich in meinen Dank ein.
2. Zur persönlichen Würdigung von Jaspers’ Werk. Schon der ungewöhnliche Weg,
auf dem Karl Jaspers zu einem der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhun-
derts geworden ist - die disziplinäre Vielfalt seines Denkens, seine Offenheit für
unterschiedliche, auch gegensätzliche philosophische Ansätze, die wissenschaftli-
che Reichweite seiner innovativen Einsichten sowie die Bereitschaft, sich politisch
zu exponieren — hat mich schon vor der Ausbildung eines eigenen philosophi-
schen Urteils für ihn begeistert.
Mit den Jahren stellte sich auch die Wertschätzung seiner unspektakulären,
gerade auch den nächsten Menschen mit Ernst und in Liebe zugewandte Existenz-
philosophie ein, die es verstand, Individualität und Rationalität zu verbinden.1 Dann
las ich seine 1946 erschienene Abhandlung über die Schuldfrage, in der er nicht
nur rechtliche, politische und moralische Schuld beim Namen nennt, sondern sie auch
durch die metaphysische Schuld ergänzt, von der er sich selbst nicht ausnimmt, ob-
gleich er nicht Täter, sondern Opfer war!
Das erste philosophische Buch las ich zwei oder drei Jahre vor dem Abitur mit
ungläubigem Staunen, weil ich angesichts der zahllosen Unbekannten in der Ge-
schichte von Natur und Gesellschaft nicht verstand, wie man überhaupt, wie Jas-
pers es tut, nach Ursprung und Ziel der Geschichte fragen kann. Doch Jaspers weicht
der sich dem Menschen in allen Lebenslagen immer wieder aufdrängenden Frage
nach dem Sinn nicht aus und kommt auf eine Lösung, deren geniale Pointe mir
erst Jahre später dämmerte: Der Sinn musste erst historisch in der Entsprechung
zwischen der Individualität des Menschen und der sie umfassenden Universalität ge-
1 K. Jaspers, Philosophie 11, 14 - 49 (3. Auf). Berlin 1956); über Liebe: Bd. II, III, 134, 188ff u.
228 f.
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Festvortrag von Prof. Dr. Volker Gerhardt:
„Die Soziomorphie des Bewusstseins.
Eine Überlegung im Anschluss an Karl Jaspers"
1. Danksagung. Karl Jaspers war es, der mir, als ich noch Schüler war, den Weg zur
Philosophie eröffnete. Das hat meinem Leben eine Richtung gegeben, die ich zu
keinem Zeitpunkt bereuen musste. Vor diesem Hintergrund bedeutet mir der Karl-
Jaspers-Preis mehr, als ich in Worte fassen kann. Hinzu kommt die Genugtuung darü-
ber, dass Jaspers, nach Basel und neben Oldenburg und Göttingen, vornehmlich hier
in Heidelberg wieder einen wissenschaftlichen Ort gefunden hat. Ich danke also der
Universität Heidelberg, der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Stadt Heidel-
berg, vertreten durch den Rektor, den Präsidenten der Akademie, und den Oberbürgermeis-
ter der Stadt, auf das Herzlichste für diese mir sehr willkommene Ehrung! Auch den
Laudator, Andreas Urs Sommer, der mir in seinem freundlichen Urteil über meine
philosophische Entwicklung deutlich gemacht hat, wie sehr ich dem Werk von Karl
Jaspers verpflichtet bin, beziehe ich in meinen Dank ein.
2. Zur persönlichen Würdigung von Jaspers’ Werk. Schon der ungewöhnliche Weg,
auf dem Karl Jaspers zu einem der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhun-
derts geworden ist - die disziplinäre Vielfalt seines Denkens, seine Offenheit für
unterschiedliche, auch gegensätzliche philosophische Ansätze, die wissenschaftli-
che Reichweite seiner innovativen Einsichten sowie die Bereitschaft, sich politisch
zu exponieren — hat mich schon vor der Ausbildung eines eigenen philosophi-
schen Urteils für ihn begeistert.
Mit den Jahren stellte sich auch die Wertschätzung seiner unspektakulären,
gerade auch den nächsten Menschen mit Ernst und in Liebe zugewandte Existenz-
philosophie ein, die es verstand, Individualität und Rationalität zu verbinden.1 Dann
las ich seine 1946 erschienene Abhandlung über die Schuldfrage, in der er nicht
nur rechtliche, politische und moralische Schuld beim Namen nennt, sondern sie auch
durch die metaphysische Schuld ergänzt, von der er sich selbst nicht ausnimmt, ob-
gleich er nicht Täter, sondern Opfer war!
Das erste philosophische Buch las ich zwei oder drei Jahre vor dem Abitur mit
ungläubigem Staunen, weil ich angesichts der zahllosen Unbekannten in der Ge-
schichte von Natur und Gesellschaft nicht verstand, wie man überhaupt, wie Jas-
pers es tut, nach Ursprung und Ziel der Geschichte fragen kann. Doch Jaspers weicht
der sich dem Menschen in allen Lebenslagen immer wieder aufdrängenden Frage
nach dem Sinn nicht aus und kommt auf eine Lösung, deren geniale Pointe mir
erst Jahre später dämmerte: Der Sinn musste erst historisch in der Entsprechung
zwischen der Individualität des Menschen und der sie umfassenden Universalität ge-
1 K. Jaspers, Philosophie 11, 14 - 49 (3. Auf). Berlin 1956); über Liebe: Bd. II, III, 134, 188ff u.
228 f.
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