HannoKube
wie um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit einer historischen Umbruchssitua-
tion zu tun, in der bislang dominante Gruppen glauben, sich mit allen Mitteln
gegen den Abstieg wehren zu müssen. Drittens haben die politischen Institutio-
nen dramatisch an Vertrauen und Integrationskraft verloren. Bei Wahlen geht es
nicht mehr um demokratische Mehrheitsentscheidungen, sondern um Sein oder
Nichtsein des eigenen way oflife. Und viertens könnte der Bürgerkrieg, nicht zu-
letzt durch die Legitimierung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele,
zur self-fulfilling prophecy werden. Ob diese Dynamik gestoppt werden kann, hängt
vor allem davon ab, ob die Republikanische Partei endgültig zu einem militanten
Kampfbund wird oder zu einem respektablen Konservatismus zurückfindet.
Hanno Kube
„Vertrauen und Vertrauensverluste im Verfassungsstaat"
Sitzung der Philosophisch-historischen Klasse am 15. Juli 2022
Vertrauen ist eine conditio sine qua non für das gelingende Zusammenleben im
Gemeinwesen. So hoch der Vertrauensbedarf in unserer arbeitsteilig angelegten,
komplexen, von Risiken und Unsicherheiten geprägten Welt ist, so sehr steht das
erforderliche Vertrauen zum Teil in Frage. Hergebrachte, vertrauengebende Struk-
turen und Gebräuche erodieren, neue Vertrauensgrundlagen sind mitunter schwer
zu finden. Gerade auch im Verhältnis zum Staat greift verschiedentlich Misstrauen
um sich, das sich in diversen Formen der Distanzierung und Ablehnung äußert.
Aus verfassungsrechtlicher Perspektive wirft dies die Frage auf, wie sich der
Verfassungsstaat zum Vertrauen als Grundlage des Zusammenlebens verhält. Me-
thodologisch ist dabei zu beachten, dass Vertrauen an erster Stelle ein Begriff der
empirischen Welt ist, auf die sich die normativen Maßstäbe und Erwartungen des
Verfassungsrechts beziehen. Das Thema bietet sich deshalb für den interdiszipli-
nären Austausch, so in der Akademie, besonders an.
Die beiden großen Dimensionen des Vertrauens im modernen Verfassungs-
staat sind das rechtsstaatliche und das demokratische Vertrauen. Im Rechtsstaat
wird Vertrauen durch das Recht materialisiert und normativiert. Das Recht ist Sub-
strat staatlich geschützten Vertrauens. Das möglicherweise prekäre Vertrauen in
Personen und Sachverhalte wandelt sich im Rechtsstaat in ein - entlastendes, auch
komplexitätsreduzierendes - Vertrauen in das Recht und seine Durchsetzung. Der
verfassungsrechtliche Vertrauensschutz bezieht sich auf die Geltung des jeweils
bestehenden Rechts und auf den Bestand staatlich getroffener Entscheidungen,
wendet sich deshalb gegen die gesetzliche Rückwirkung, die nachträgliche Ände-
rung von Verwaltungsakten und mehrfache Gerichtsverfahren in derselben Sache.
Doch vertraut der Bürger auch auf die Kontinuität des Rechts in die Zukunft hin-
73
wie um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit einer historischen Umbruchssitua-
tion zu tun, in der bislang dominante Gruppen glauben, sich mit allen Mitteln
gegen den Abstieg wehren zu müssen. Drittens haben die politischen Institutio-
nen dramatisch an Vertrauen und Integrationskraft verloren. Bei Wahlen geht es
nicht mehr um demokratische Mehrheitsentscheidungen, sondern um Sein oder
Nichtsein des eigenen way oflife. Und viertens könnte der Bürgerkrieg, nicht zu-
letzt durch die Legitimierung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele,
zur self-fulfilling prophecy werden. Ob diese Dynamik gestoppt werden kann, hängt
vor allem davon ab, ob die Republikanische Partei endgültig zu einem militanten
Kampfbund wird oder zu einem respektablen Konservatismus zurückfindet.
Hanno Kube
„Vertrauen und Vertrauensverluste im Verfassungsstaat"
Sitzung der Philosophisch-historischen Klasse am 15. Juli 2022
Vertrauen ist eine conditio sine qua non für das gelingende Zusammenleben im
Gemeinwesen. So hoch der Vertrauensbedarf in unserer arbeitsteilig angelegten,
komplexen, von Risiken und Unsicherheiten geprägten Welt ist, so sehr steht das
erforderliche Vertrauen zum Teil in Frage. Hergebrachte, vertrauengebende Struk-
turen und Gebräuche erodieren, neue Vertrauensgrundlagen sind mitunter schwer
zu finden. Gerade auch im Verhältnis zum Staat greift verschiedentlich Misstrauen
um sich, das sich in diversen Formen der Distanzierung und Ablehnung äußert.
Aus verfassungsrechtlicher Perspektive wirft dies die Frage auf, wie sich der
Verfassungsstaat zum Vertrauen als Grundlage des Zusammenlebens verhält. Me-
thodologisch ist dabei zu beachten, dass Vertrauen an erster Stelle ein Begriff der
empirischen Welt ist, auf die sich die normativen Maßstäbe und Erwartungen des
Verfassungsrechts beziehen. Das Thema bietet sich deshalb für den interdiszipli-
nären Austausch, so in der Akademie, besonders an.
Die beiden großen Dimensionen des Vertrauens im modernen Verfassungs-
staat sind das rechtsstaatliche und das demokratische Vertrauen. Im Rechtsstaat
wird Vertrauen durch das Recht materialisiert und normativiert. Das Recht ist Sub-
strat staatlich geschützten Vertrauens. Das möglicherweise prekäre Vertrauen in
Personen und Sachverhalte wandelt sich im Rechtsstaat in ein - entlastendes, auch
komplexitätsreduzierendes - Vertrauen in das Recht und seine Durchsetzung. Der
verfassungsrechtliche Vertrauensschutz bezieht sich auf die Geltung des jeweils
bestehenden Rechts und auf den Bestand staatlich getroffener Entscheidungen,
wendet sich deshalb gegen die gesetzliche Rückwirkung, die nachträgliche Ände-
rung von Verwaltungsakten und mehrfache Gerichtsverfahren in derselben Sache.
Doch vertraut der Bürger auch auf die Kontinuität des Rechts in die Zukunft hin-
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